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G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie / ... / B.Kant
2. Kritik der praktischen Vernunft. Das erste in der Kantischen Philosophie war die Intelligenz, das Theoretische. Das zweite ist das Praktische, die Natur des Willens, das, was das Prinzip des Willens ist. Die Rousseausche Bestimmung, daß der Wille an und für sich frei ist, hat Kant aufgestellt. Die theoretische Vernunft hat Kant so gefaßt, daß ihr, insofern sie sich auf einen Gegenstand bezieht, dieser Gegenstand gegeben sein muß; insofern sie ihn sich selbst gibt, hat er keine Wahrheit, und die Vernunft kommt im Erkennen (in diesem) nicht zur Selbständigkeit. Selbständig in sich ist sie dagegen als praktische Vernunft; als moralisches Wesen ist der Mensch frei, über alles Naturgesetz und Erscheinung erhaben. Wie die theoretische Vernunft Kategorien, apriorische Unterschiede an ihr hatte, so auch die praktische Vernunft das Sittengesetz überhaupt, dessen nähere Bestimmungen die Begriffe Pflicht und Recht, Erlaubtes und Unerlaubtes ausmachen. Und hier verschmäht die Vernunft allen gegebenen Stoff, der ihr im Theoretischen notwendig ist. Der Wille bestimmt sich in sich, auf Freiheit beruht alles Rechtliche und Sittliche; darin hat der Mensch sein absolutes Selbstbewußtsein. Nach dieser Seite ist das Selbstbewußtsein sich das Wesen, wie die theoretische Vernunft ein anderes hatte. α) Ich ist in seiner Einzelheit unmittelbar Wesen, Allgemeinheit, Objektivität. β) Die Subjektivität hat das Streben zur Realität, nicht der Realität im Vorherigen; hier gilt sich die Vernunft als das Wirkliche. Hier ist der Begriff, der das Bewußtsein seiner Mangelhaftigkeit hat; was die theoretische Vernunft nicht haben sollte, - der Begriff sollte eben der Begriff bleiben. γ) Es ist Standpunkt der Absolutheit; aufgeschlossen in seiner Brust ist dem Menschen ein Unendliches. Das ist das Befriedigende an der Kantischen Philosophie, es ist wenigstens ans Gemüt gelegt; ich anerkenne nur, was meiner Bestimmung gemäß ist.
a) Den Willen teilt Kant in niederes und höheres Begehrungsvermögen. Dieser Ausdruck ist nicht ungeschickt. Das niedere Begehrungsvermögen sind die Begierden, Neigungen usf.; das höhere ist der Wille als solcher, der nicht äußerliche, einzelne Zwecke hat, sondern allgemeine Zwecke.41) Die Frage ist nun: Was ist das Prinzip des Willens? Was soll den Menschen bestimmen in seinen Handlungen? Da hat man denn allerlei Prinzipien angegeben, Wohlwollen, Glückseligkeit usf. Materiale Prinzipien des Handelns reduzieren sich alle auf Triebe, auf die Glückseligkeit. Aber das Vernünftige an ihm selbst ist rein formal und besteht darin, daß das, was als Gesetz gelten soll, als allgemeingültige Gesetzgebung muß gedacht werden können; so daß es sich nicht aufhebt, wenn es als solches gedacht wird. Alle Moralität der Handlung nun beruht auf der Gesinnung, daß sie mit Bewußtsein des Gesetzes und um des Gesetzes willen aus Achtung für dasselbe und vor sich selbst geschehe, mit Erwehrung dessen, was glückselig macht.42) Und als moralisches Wesen hat der Mensch das Sittengesetz in sich selbst, dessen Prinzip Freiheit und Autonomie des Willens ist. Kant sagt nun, solche Bestimmungen, die aus den Neigungen genommen sind, sind heterogene Prinzipien für den Willen, oder der Wille ist Heteronomie, wenn er solche Bestimmungen sich zum Zweck macht; er nimmt seine Bestimmungen von etwas anderem her. Der Wille aber ist, frei zu sein, sich aus sich zu bestimmen; er ist autonomisch, absolute Spontaneität, Prinzip der Freiheit. Das Wesen des Willens ist, sich selbst zu bestimmen; er kann nur zu seinem Zweck haben seine Freiheit. Kant nennt insofern die praktische Vernunft autonomisch, sie gibt sich selbst Gesetze; der empirische Wille ist heteronomisch, er wird durch Begierde, Trieb bestimmt. Das gehört unserer Natur, nicht dem Gebiete der Freiheit an.43)
Es ist eine große, höchst wichtige Bestimmung der Kantischen Philosophie, daß Kant, was für das Selbstbewußtsein Wesen hat, als Gesetz, Ansich gilt, in es selbst zurückgeführt hat. Indem der Mensch sucht nach diesem und jenem Zweck, wie er die Welt, die Geschichte beurteilen soll, was soll er da zum letzten Zweck machen? Aber für den Willen ist kein anderer Zweck als der aus ihm selbst geschöpfte, der Zweck seiner Freiheit. Es ist ein großer Fortschritt, daß dies Prinzip aufgestellt ist, daß die Freiheit die letzte Angel ist, auf der der Mensch sich dreht, diese letzte Spitze, die sich durch nichts imponieren läßt, so daß der Mensch nichts, keine Autorität gelten läßt, insofern es gegen seine Freiheit geht. Dies hat der Kantischen Philosophie von einer Seite die große Ausbreitung, Zuneigung gewonnen, daß der Mensch ein schlechthin Festes, Unwankendes in sich selbst findet, einen festen Mittelpunkt, so daß ihn nichts verpflichtet, worin diese Freiheit nicht respektiert wird. Dies ist das Prinzip; aber dabei bleibt es auch stehen.
Die praktische Vernunft ist sogleich als konkret aufgefaßt. Die letzte Spitze der theoretischen Vernunft ist abstrakte Identität; sie kann nur Kanon, Regel zu abstrakten Ordnungen abgeben. Nur die praktische Vernunft ist gesetzgebend, konkret; das Gesetz, das sie sich gibt, ist Sittengesetz. Es ist ausgesprochen, daß sie in sich konkret sei. Das Weitere ist, daß diese Freiheit zunächst leer ist, das Negative alles anderen; kein Band, nichts anderes verpflichtet mich. Sie ist insofern unbestimmt; es ist die Identität des Willens mit sich selbst, daß er bei sich ist. Was ist aber der Inhalt dieses Gesetzes? Hier sind wir sogleich wieder bei der Inhaltslosigkeit. Denn es soll nichts anderes das Gesetz sein als eben die Identität, die Übereinstimmung mit sich selbst, die Allgemeinheit. Das formale Prinzip der Gesetzgebung kommt in dieser Einsamkeit in sich zu keinem Inhalt, keiner Bestimmung. Die einzige Form, die dies Prinzip hat, ist die der Identität mit sich selbst. Das Allgemeine, das Sich-nicht-Widersprechen ist etwas Leeres, das im Praktischen sowenig als im Theoretischen zu einer Realität kommt. Das allgemeine Sittengesetz spricht Kant so aus (und solche allgemeine Form wollte man von jeher aufstellen, das ist auch Forderung des abstrakten Verstandes): Handle nach Maximen (das Gesetz soll auch mein besonderes sein), die fähig sind, allgemeine Gesetze zu werden.44) Die Bestimmung ist damit nur die Abstraktion, Identität.
So hat Kant zur Bestimmung der Pflicht (denn die abstrakte Frage ist, was ist Pflicht für den freien Willen) nichts gehabt als die Form der Identität, des Sich-nicht-Widersprechens, was das Gesetzte des abstrakten Verstandes ist. Sein Vaterland zu verteidigen, die Glückseligkeit eines anderen ist Pflicht, nicht wegen ihres Inhalts, sondern weil es Pflicht ist, - wie bei den Stoikern wahr ist das Gedachte darum, weil und insofern es gedacht ist. Das Gesetz der Moralität ist Wohltätigkeit, "Gebt eure Sachen den Armen"; schenken alle, was sie haben, so ist Wohltätigkeit aufgehoben. Mit der Identität kommt man um keinen Schritt weiter, Gott ist Gott; jeder Inhalt, der in diese Form gelegt wird, ist ohne sich zu widersprechen. Aber dies ist ebensogut, als wenn er gar nicht hineingelegt wird: z. B. Eigentum, dies muß in Beziehung auf mein Handeln respektiert werden; aber es kann auch ganz wegbleiben, es gibt kein Eigentum, die Bestimmung kann ganz wegbleiben. In Ansehung des Eigentums ist das Gesetz: das Eigentum soll respektiert werden; denn das Gegenteil kann nicht allgemeines Gesetz sein. Das ist richtig. Aber das Eigentum ist vorausgesetzt; ist es nicht, so wird es nicht respektiert; ist es, so ist es. Setze ich kein Eigentum voraus, so ist im Diebstahl kein Widerspruch vorhanden; es ist ganz formelle Bestimmung. Dies ist der Mangel des Kantisch-Fichteschen Prinzips, daß es formell überhaupt ist. Die kalte Pflicht ist der letzte unverdaute Klotz im Magen, die Offenbarung gegeben der Vernunft.
b) Das erste in der praktischen Vernunft ist der freie Wille für sich, der sich bestimmt; dieses Konkrete ist abstrakt. Das zweite und dritte sind Formen, die daran erinnern, daß der Wille in höherem Sinne konkret sei. Ich bin auch besonderer Wille, als besonderes Individuum; das Konkrete ist so, daß mein besonderer Wille und der allgemeine Wille identisch seien oder daß ich ein moralischer Mensch sei. Das dritte ist das höchste Konkrete, der Begriff der Freiheit, alle Menschen als frei; die Natur, die Welt soll in Harmonie mit dem Begriff der Freiheit sein. - Das zweite ist das Verhältnis des Begriffs des Willens zum besonderen Willen. Hier fangen Postulate an. Der besondere Wille soll dem allgemeinen gemäß sein, diese Einheit wird postuliert; der Mensch soll moralisch sein, es bleibt beim Sollen stehen. Das Resultat ist, daß dieses Ziel nur im unendlichen Progresse zu erreichen sei. Es bleibt daher bei diesem Gerede von Moralität stehen. Was aber moralisch ist, oder an ein System des sich verwirklichenden Geistes wird nicht gedacht. Sondern vielmehr wie die theoretische Vernunft dem gegenständlichen Sinnlichen, so bleibt die praktische Vernunft der praktischen Sinnlichkeit, den Trieben und Neigungen gegenüberstehen. Die vollendete Moralität muß ein Jenseits bleiben; denn die Moralität setzt die Verschiedenheit des besonderen und allgemeinen Willens voraus. Sie ist Kampf und Bestimmen des Sinnlichen durch das Allgemeine; der Kampf kann nur sein, wenn der sinnliche Wille dem allgemeinen noch nicht angemessen ist. Der moralische Wille bleibt so nur ein Sollen; darauf gründet Kant das Postulat der Unsterblichkeit der Seele.45) Der partikuläre Wille ist allerdings ein Anderes des allgemeinen Willens; er ist aber nicht Letztes, schlechthin Beharrendes.
c) Das andere Postulat ist Postulat Gottes. Der Wille hat die ganze Welt, das Ganze der Sinnlichkeit sich gegenüber. Die Vernunft dringt auf Einheit beider Seiten; die Natur, die Welt soll in Harmonie mit dem vernünftigen Willen, dem Guten sein. Die Idee des Sittengesetzes ist das Gute, als der Endzweck der Welt; da es aber formell ist, so hat es für sich keinen Inhalt, steht den Trieben und Neigungen einer subjektiven - und einer äußeren selbständigen Natur gegenüber. Den Widerspruch beider vereint Kant in dem Gedanken des höchsten Gutes, worin die Natur der Vernunft angemessen sei 46) , - eine Übereinstimmung, um die es eigentlich gar nicht zu tun ist oder worin die praktische Realität besteht. Denn Glückseligkeit ist nur das sinnliche Selbstgefühl oder Wirklichkeit dieses als dieses Individuums, nicht die an sich allgemeine Realität. Jene Vereinigung bleibt daher selbst nur ein Jenseits, ein Gedanke. Kant geht ganz in das Geschwätze ein, daß es in dieser Welt dem Tugendhaften oft schlecht, dem Lasterhaften gut gehe usf.47) , und postuliert näher das Dasein Gottes als des Wesens, der Kausalität, wodurch diese Harmonie zustande kommt, zum Behuf sowohl der Vorstellung der Heiligkeit des sittlichen Gesetzes als des in der Natur, aber auch nur nach dem unendlichen Progresse zu realisierenden Vernunftzwecks, - sowie die Unsterblichkeit der Seele, als den unendlichen Progreß des Subjekts in seiner Moralität, weil die Moralität selbst etwas Unvollkommenes ist und ins Unendliche Fortschritte machen muß; welche Postulate den Widerspruch, wie er ist, bestehen lassen und nur ein abstraktes Sollen seiner Auflösung aussprechen. Gott ist also ein Postuliertes; die Vernunft erkennt es nicht. Die Harmonie ist nicht vorhanden, nicht wirklich; sie soll nur sein. Das Postulat selbst ist perennierend; das Gute ist ein Jenseits gegen die Natur, sie sind in diesen Dualismus gestellt. Die Natur bliebe nicht mehr Natur, wenn sie dem Begriffe des Guten angemessen würde; es bleibt so beim höchsten Widerspruche, sie können sich nicht vereinigen. Das Gesetz der Notwendigkeit und das Gesetz der Freiheit sind verschiedene voneinander. Es ist ebenso notwendig, die Einheit beider zu setzen; sie ist aber nicht wirklich. Das Andere, die Trennung beider, ist gesetzt; Kant bringt populäre Redensarten herbei; das Böse soll überwunden werden, muß es aber ebensowenig sein. Gott bleibt so Postulat, ist nur ein Glaube, ein Dafürhalten, welches nur subjektiv, nicht wahr an und für sich ist.48) Dieses Resultat ist auch sehr populär.
Diese Postulate drücken nun nichts als die gedankenlose Synthesis der verschiedenen Momente aus, die sich allenthalben widersprechen; sie sind ein "Nest" von Widersprüchen. Z. B. die Unsterblichkeit der Seele ist postuliert, um der unvollkommenen Moralität willen, d. h. weil sie mit Sinnlichkeit affiziert ist. Aber das Sinnliche ist Bedingung des moralischen Selbstbewußtseins; das Ziel, die Vollkommenheit, ist, was die Moralität als solche selbst aufhebt. - Ebenso das andere Ziel, die Harmonie des Sinnlichen und Vernünftigen, hebt gleichfalls die Moralität auf; denn sie besteht eben in diesem Gegensatze gegen die Sinnlichkeit. - Die Wirklichkeit, das Sein des Gottes, des die Harmonie Hervorbringenden, ist ebenso eine solche, die mit Bewußtsein zugleich keine ist; er wird vom Bewußtsein zum Behufe der Harmonie angenommen, wie die Kinder sich irgendeine Vogelscheuche machen und miteinander ausmachen, sie wollen sich vor diesem mannequin fürchten. Der Behuf, zu dem er zugleich angenommen wird, daß durch die Vorstellung eines heiligen Gesetzgebers das Sittengesetz um so mehr Achtung gewinne, widerspricht dem, daß eben die Moralität darin besteht, das Gesetz rein um seiner selbst willen zu achten.49)
41) Kritik der praktischen Vernunft (4. Aufl., Riga 1797), S. [A] 41
42) Kritik der praktischen Vernunft (4. Aufl., Riga 1797), S. [A] 40, 56, 126-135
43) Kritik der praktischen Vernunft (4. Aufl., Riga 1797), S. [A] 58, 38, 77
44) Kritik der praktischen Vernunft (4. Aufl., Riga 1797), S. [A] 54, 58
45) Kritik der praktischen Vernunft (4. Aufl., Riga 1797), S. [A] 219-223
46) Kritik der praktischen Vernunft (4. Aufl., Riga 1797), S. [A], 198 ff.
47) Kritik der praktischen Vernunft (4. Aufl., Riga 1797), S. [A] 205-209
48) Kritik der praktischen Vernunft (4. Aufl., Riga 1797), S. [A] 223-227
49) Kritik der praktischen Vernunft (4. Aufl., Riga 1797), S. [A] 146
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