G.W.F. Hegel:
Er ist nicht nur höchst wichtige Figur in der Geschichte der Philosophie - die interessanteste in der Philosophie des Altertums -, sondern er ist welthistorische Person. Er ist Hauptwendepunkt des Geistes in sich selbst; diese Wendung hat auf Weise des Gedankens in ihm sich dargestellt.
Indem Sokrates auf diese Weise der Moralphilosophie ihre Entstehung gab (wie er sie behandelt, wird sie populär), hat ihn alle Folgezeit des moralischen Geschwätzes und der Popularphilosophie zu ihrem Patron und Heiligen erklärt und ihn zum rechtfertigenden Deckmantel aller Unphilosophie erhoben, wozu noch vollends kam, daß sein Tod ihm das populär-rührende Interesse des Unschuldig-Leidens gab.
Im wahrhaft Tragischen müssen berechtigte, sittliche Mächte von beiden Seiten es sein, die in Kollision kommen; so ist das Schicksal des Sokrates.
Sokrates also, dessen Geburt ins 4. Jahr der 77. Olympiade (469 v. Chr.) fällt, war der Sohn des Sophroniskos, eines Bildbauers; seine Mutter ist Phainarete, eine Hebamme. Sein Vater hielt ihn zur Skulptur an, und es wird erzählt, daß Sokrates es in dieser Kunst weit gebracht; es wurden noch spät Statuen von bekleideten Grazien, die sich in der Akropolis von Athen befanden, ihm zugeschrieben. (Nach dem Tode seines Vaters kam er in den Besitz eines kleinen Vermögens. Seine Kunst befriedigte ihn aber nicht; es gewann ihn eine große Neugierde nach der Philosophie und Liebe zu wissenschaftlichen Untersuchungen. Er trieb seine Kunst nur, um Geld zum notdürftigen Unterhalt zu gewinnen und sich auf das Studium der Wissenschaften legen zu können; und von einem Athenienser Krito wird erzählt, daß er ihn in Ansehung der Kosten unterstützt habe, um von den Meistern aller Künste unterwiesen zu werden. Neben der Ausübung seiner Kunst und besonders nachdem er diese völlig aufgegeben, las er von Werken älterer Philosophen, soviel er nur habhaft werden konnte, und hörte zugleich besonders den Anaxagoras und nach dessen Vertreibung aus Athen, zu welcher Zeit Sokrates 37 Jahr alt war, den Archelaos, der als Nachfolger des Anaxagoras angesehen wurde, außerdem noch berühmte Sophisten anderer Wissenschaften, unter anderen den Prodikos, einen berühmten Lehrer der Beredsamkeit - er erwähnt seiner mit Liebe bei Xenophon -, auch andere Lehrer in Musik, Poesie usf., und galt überhaupt für einen von allen Seiten ausgebildeten Menschen, der in allem unterrichtet war, was damals dazu nötig war. Zu seinen ferneren Lebensumständen gehört, daß er die Pflicht, sein Vaterland zu verteidigen, die er als atheniensischer Bürger hatte, erfüllte; er machte deshalb als solcher drei Feldzüge des Peloponnesischen Krieges , in den sein Leben fiel, mit.
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Raffaels "Philosophenschule von Athen" (ca. 1510) in der Stanza della Segnatura des Vatikan
Der delphische Apoll, die Pythia haben Sokrates für den weisesten der Griechen erklärt und diese Beziehung des Orakels auf ihn ist merkwürdig. Im delphischen Orakel war Apollo als wissender Gott präsidierend, - Phoibos der Wissende; sein höchstes Gebot war: Erkenne Dich selbst. Es ist dies nicht Erkenntnis der eigenen Partikularität des Menschen, sondern "Erkenne Dich" ist das Gesetz des Geistes. Dies Gebot hat Sokrates erfüllt, das γνωϑι σατόν zum Wahlspruch der Griechen gemacht; er ist der Heros, der an die Stelle des delphischen Gottes das Prinzip aufgestellt hat: der Mensch wisse in sich, was das Wahre sei, er müsse in sich schauen. Die Pythia tat nun jenen Ausspruch; und dies ist die Umwälzung, daß an die Stelle des Orakels das eigene Selbstbewußtsein des Menschen, das allgemeine Bewußtsein des Denkens eines jeden gesetzt ist. Diese innere Gewißheit ist allerdings ein anderer neuer Gott, nicht der bisherige Gott der Athenienser; und so ist die Anklage gegen Sokrates ganz richtig. HEGEL>>>
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