G.W.F.Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie /B. Zweite Abteilung/1. Locke
Locke
Wer diese ganze Manier systematisch vorgestellt hat, ist Locke gewesen, der den Gedanken Bacons weiter ausführte, und wenn Bacon für die Wahrheit an das sinnliche Sein verwies, so zeigte Locke das Allgemeine, den Gedanken überhaupt in dem sinnlichen Sein auf oder zeigte, daß wir das Allgemeine, Wahre aus der Erfahrung haben. So betrachtet, daß der Begriff gegenständliche Wirklichkeit für das Bewußtsein habe, ist dies ein notwendiges Moment der Totalität. Aber wie dieser Gedanke bei Locke erscheint, daß wir das Wahre aus der Erfahrung oder dem sinnlichen Sein, aus der Wahrnehmung nehmen und abziehen, ist es der trivialste, schlechteste Gedanke, - statt Moments so das Wesen des Wahren.
Gegen die Voraussetzung der inneren Unmittelbarkeit der Idee und gegen die Methode, sie in Definitionen und Axiomen vorzutragen, und gegen die absolute Substanz behauptet die Forderung, die Ideen als Resultate darzustellen, und dann die Individualität und das Selbstbewußtsein sein Recht. Diese Bedürfnisse geben sich in der Lockeschen und Leibnizischen Philosophie, obzwar auf unvollkommene Weise, zu erkennen. Dies Prinzip tritt daher in der Philosophie jener unterschiedslosen Identität entgegen, und zwar bei Locke so, daß die unmittelbare Wirklichkeit das Reale und Wahre ist und das Interesse der Philosophie die Erkenntnis dessen, was an und für sich wahr ist, aufgibt und nur dahingeht, die Art und Weise zu beschreiben, wie der Gedanke das Gegebene aufnimmt.
Locke und Leibniz sind beide für sich selbst stehend, einander entgegengesetzt. Das Allgemeine, was in ihnen gemeinschaftlich ist, ist, daß sie, im Gegensatz gegen Spinoza und Malebranche, das Besondere, die endliche Bestimmtheit und das Einzelne zum Prinzip machen. Bei Locke besonders ist es darum zu tun, das Allgemeine, die allgemeinen Ideen, Vorstellungen überhaupt und den Ursprung derselben zu erkennen. Bei Spinoza und Malebranche ist die Substanz oder das Allgemeine das Wahrhafte, was an und für sich, ohne Ursprung, ewig ist und woran das Besondere nur Modifikationen sind. Bei Locke ist hingegen das Endliche und das endliche Erkennen, Bewußtsein das Erste, und daraus soll abgeleitet werden das Allgemeine; Leibniz macht ebenso die Monade, das Einzelne, Individuelle, was bei Spinoza nur eine Form des Untergehens hat, zum Prinzip; und in dieser Rücksicht ist es, daß ich beide zusammenstelle.
Locke macht eine Art des Gegensatzes zu Spinoza aus. Bei diesem ist die Substanz das Absolute, allein Seiende, das Ewige; und alles ist nur etwas, insofern es auf die Substanz bezogen, durch sie begriffen wird. Locke macht Gegenbild dazu, stellt sich auf den entgegengesetzten Standpunkt. Gegen die starre Einheit der Spinozistischen Substanz hält das Bewußtsein an den Unterschieden fest: teils hält es an sich, als frei in sich, gegenüber dem Sein - Natur, Gott -, um es als seinen Gegenstand sich zu bestimmen; teils von diesem Gegensatze aus die Einheit hervorzubringen und zu ihr sich zu erheben. Es ist allgemeine Tendenz, den Gegensatz, Unterschied zu behaupten und in ihm und aus ihm die Einheit zu erkennen. Aber die Wege dieser Tendenz verstanden sich selbst noch wenig, hatten noch kein Bewußtsein über ihre Aufgabe und die Weise, ihre Forderung zu leisten. Zunächst bei Locke ist die andere Seite, das Beschränkte, Endliche, Sinnliche, unmittelbar Daseiende, Negative die Hauptsache; es ist, - das äußerlich und innerlich Wahrnehmbare. Spinoza hat dem Negativen Unrecht getan; es kam daher zu keiner immanenten Bestimmung, alles Bestimmte geht zugrunde. In Locke ist das Endliche das Erste, das Fundament; von ihm wird zu Gott übergegangen. Er bleibt ganz bei der gemeinen Stufe des Bewußtseins stehen, daß Gegenstände außer uns, führt sie herüber, erhebt die Einzelheiten der Wahrnehmung ins Allgemeine. Es ist Versuch einer Deduktion der allgemeinen Begriffe; der Weg der Definitionen ist verlassen, mit denen sonst angefangen wird. Die allgemeinen Begriffe, das mit sich Identische, z. B. die Substantialität, entsteht subjektiv aus den Gegenständen. Das Endliche ist nicht als absolute Negativität in seiner Unendlichkeit aufgefaßt; das werden wir zum dritten bei Leibniz sehen. Leibniz setzt in höherem Sinn die Individualität, das Unterschiedene als für sich seiend, und zwar gegenstandslos, als wahrhaftes Sein, - nur als Totalität, nicht als Endliches, und doch unterschieden, so daß also jedes selbst die Totalität.
Ganz außer den Augen gesetzt ist bei Locke die Wahrheit an und für sich selbst. Das Interesse ist nicht mehr, zu erkennen, was wahr, an und für sich ist; sondern das Interesse ist subjektiv, wie sich in unserem Erkennen dies mache, wie wir zu den Vorstellungen kommen, - besonders zu den allgemeinen Vorstellungen oder zu den Ideen, wie Locke es nannte. Er macht die Voraussetzung, daß solche Bestimmungen unmittelbar wahr seien; Realität hat die schlechte Bedeutung, ob etwas außer uns. Locke beschreibt den Weg, auf welchem im Bewußtsein allgemeine Gedanken zum Bewußtsein kommen, - ein Weg der Erscheinung. Hiermit wird von nun an oder auf dieser Seite der Gesichtspunkt des Philosophierens ganz und gar verändert; das Interesse beschränkt sich auf die Form des Übergehens des Objektiven oder des Gefühls in die Form von Vorstellung. Bei Spinoza und Malebranche sahen wir allerdings auch als Hauptbestimmung, diese Beziehung des Denkens auf das Ausgedehnte zu erkennen, also das ins Verhältnis, ins Relative Fallende, - auch die Frage: Wie ist beides bezogen? Sie wurde aber in dem Sinne beantwortet und genommen, daß nur diese Beziehung für sich das Interesse ausmacht, und diese Beziehung selbst, als absolute Substanz, ist dann Identität, das Wahre, Gott, - nicht die Bezogenen. Das Interesse fällt nicht auf die Bezogenen; nicht die Bezogenen sind das Seiende, Vorausgesetzte und Festbleibende, - die Bezogenen sind nur akzidentell. Hier gelten die Bezogenen, - die Dinge und das Subjekt; sie sind als geltend vorausgesetzt.
Es ist scheinbar dasselbe Interesse wie in Malebranches Recherche de la vérité. WEITER >>>
1) *Quarterly Review, April 1817, p. 70-71: "Der Akt (the act), daß Locke von Oxford verjagt wurde" (was er dort gewesen, ist nicht gesagt), "zwar nicht der Akt der Universität, sondern Jakobs II., auf dessen ausdrücklichen Befehl und unter der peremtorischen Autorität eines schriftlichen Mandats (warrant), als Visitor of Christ-Church, die Austreibung stattfand. Aus der Korrespondenz, die stattfand, erhellt, daß das Kollegium wider Willen sich unterwarf als einer Maßregel, der es nicht widerstehen konnte, ohne den Frieden und die Ruhe seiner Mitglieder zu kompromittieren." - Vgl. The Works of John Locke, London 1812, Vol. I: The life of the Author, p. XXVI-XXVIII
(G.W.F.Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie /B. Zweite Abteilung/1. Locke)
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