Anselm von Canterbury
Proslogion (Übersetzung: Burkhard Mojsisch)
Kapitel 2
Daß Gott wahrhaft existiert
Herr, der du dem Glauben die Einsicht verleihst, verleih mir also, daß ich, soweit du es für nützlich erachtest, verstehe, daß du bist, wie wir glauben, und das bist, was wir glauben!
Und zwar glauben wir, daß du etwas bist, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann
Oder existiert etwa demnach ein solches Wesen nicht, weil der Tor in seinem Herzen sprach: Es existiert kein Gott? Aber gerade auch der Tor, wenn er eben das vernimmt, was ich aussage als etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, versteht gewiß das, was er vernimmt; und was er versteht, ist in seinem Verstande auch wenn er nicht versteht, daß es existiert.
Denn es ist eines, daß etwas im Verstande ist, ein anderes, zu verstehen, daß etwas existiert. Wenn nämlich ein Maler zuvor denkt, was er zu schaffen beabsichtigt, hat er zwar im Verstande, versteht aber noch nicht, daß existiert, was er noch nicht geschaffen hat. Wenn er aber bereits gemalt hat, hat er sowohl im Verstande als er auch versteht, daß existiert, was er bereits geschaffen hat.
Also sieht auch der Tor als erwiesen an, daß etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, zumindest im Verstande ist, weil er das, wenn er es vernimmt, versteht und weil alles, was verstanden wird, im Verstande ist.
Und gewiß kann das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, nicht allein im Verstande sein.
Denn wenn es auch nur allein im Verstande ist, kann gedacht werden, daß es auch in Wirklichkeit existiert, was größer ist.
Wenn also das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, allein im Verstande ist, ist eben das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, eines, über das hinaus Größeres gedacht werden kann. Das aber ist doch unmöglich der Fall.
Es existiert also ohne Zweifel etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, sowohl im Verstande als auch in Wirklichkeit.
Kapitel 3
Daß sein Nicht-Sein nicht gedacht werden kann
Das existiert schlechterdings so wahrhaft, daß sein Nicht-Sein nicht einmal gedacht werden kann. Denn es kann gedacht werden, daß etwas existiert, dessen Nicht-Sein nicht gedacht werden kann, was ein Größeres ist als das, dessen Nicht-Sein gedacht werden kann.
Wenn daher das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, als nicht-existierend gedacht werden kann, ist eben das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, nicht das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, was sich nicht miteinander vereinbaren läßt. So wahrhaft existiert also etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, daß sein Nicht-Sein nicht einmal gedacht werden kann
Und das bist du, Herr, unser Gott. So wahrhaft existierst du also, Herr, mein Gott, daß dein Nicht-Sein nicht einmal gedacht werden kann. Und das mit Recht. Wenn nämlich ein Geist etwas Besseres als dich denken könnte, erhöhte sich das Geschöpf über den Schöpfer und urteilte über den Schöpfer, was gänzlich widersinnig wäre.
Allerdings kann einzig mit Ausnahme von dir alles, was sonst noch existiert, als nicht-existierend gedacht werden. Du allein besitzt somit am wahrhaftigsten von allem und deshalb am meisten von allem Existenz, weil alles, was sonst noch existiert, nicht so wahrhaft und deswegen in geringerem Maße Existenz besitzt. Warum also sprach der Tor in seinem Herzen: Es existiert kein Gott, wo es doch für den vernünftigen Geist so sehr auf der Hand liegt, daß du am meisten von allem existierst? Warum, wenn nicht deshalb, weil er dumm und töricht ist?
Kapitel IV
Wie sprach der Tor im Herzen, was nicht gedacht werden kann
Wie aber sprach er im Herzen, was er nicht hat denken können; oder wie hat er nicht denken können, was er im Herzen sprach, wo doch im Herzen sprechen und denken dasselbe bedeuten?
Wenn er es wahrhaft, vielmehr weil er es wahrhaft sowohl dachte, da er es im Herzen sprach, als auch nicht im Herzen sprach, da er es nicht hat denken können, so wird nicht nur auf eine einzige Weise etwas im Herzen gesprochen oder gedacht. Es wird nämlich etwas auf eine Weise gedacht, wenn das Lautgebilde, das es bezeichnet, gedacht wird, auf eine andere Weise aber, wenn eben das, was etwas ist, verstanden wird. Auf jene Weise kann daher Gottes Nicht-Sein gedacht werden, auf diese jedoch keineswegs. Denn niemand, der das, was Gott ist, versteht, kann denken, daß Gott nicht existiert, mag er auch ohne jede oder mit einer fremden Bedeutung diese Worte im Herzen sprechen. Gott ist nämlich das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann. Wer das treffend versteht, versteht durchaus, daß eben dies so existiert, daß es nicht einmal dem Denken nach nicht existieren kann. Wer also versteht, daß Gott derart existiert, kann ihn nicht als nicht-existierend denken.
Dank dir, gütiger Herr, Dank dir, daß ich das, was ich früher aufgrund deiner Gabe glaubte, nun aufgrund deiner Erleuchtung derart verstehe, daß ich, wollte ich es nicht glauben, daß du existierst, nicht umhinkönnte, es zu verstehen.
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