“Die Erkenntnis des Geistes ist die konkreteste, darum höchste und schwerste. Erkenne dich selbst, dies absolute Gebot hat weder an sich noch da, wo es geschichtlich als ausgesprochen vorkommt, die Bedeutung nur einer Selbsterkenntnis nach den partikulären Fähigkeiten, Charakter, Neigungen und Schwächen des Individuums, sondern die Bedeutung der Erkenntnis des Wahrhaften des Menschen wie des Wahrhaften an und für sich, - des Wesens selbst als Geistes. Ebensowenig hat die Philosophie des Geistes die Bedeutung der sogenannten Menschenkenntnis, welche von anderen Menschen gleichfalls die Besonderheiten, Leidenschaften, Schwächen, diese sogenannten Falten des menschlichen Herzens zu erforschen bemüht ist, - eine Kenntnis, die teils nur unter Voraussetzung der Erkenntnis des Allgemeinen, des Menschen und damit wesentlich des Geistes Sinn hat, teils sich mit den zufälligen, unbedeutenden, unwahren Existenzen des Geistigen beschäftigt, aber zum Substantiellen, dem Geiste selbst, nicht dringt.”
- Die Schwierigkeit der philosophischen Erkenntnis des Geistes besteht darin, daß wir es dabei nicht mehr mit der vergleichsweise abstrakten, einfachen logischen Idee, sondern mit der konkretesten, entwickeltsten Form zu tun haben, zu welcher die Idee in der Verwirklichung ihrer selbst gelangt. Auch der endliche oder subjektive Geist - nicht bloß der absolute - muß als eine Verwirklichung der Idee gefaßt werden. Die Betrachtung des Geistes ist nur dann in Wahrheit philosophisch, wenn sie den Begriff desselben in seiner lebendigen Entwicklung und Verwirklichung erkennt, d. h. eben, wenn sie den Geist als ein Abbild der ewigen Idee begreift. Seinen Begriff zu erkennen gehört aber zur Natur des Geistes. Die vom delphischen Apollo an die Griechen ergangene Aufforderung zur Selbsterkenntnis hat daher nicht den Sinn eines von einer fremden Macht äußerlich an den menschlichen Geist gerichteten Gebots; der zur Selbsterkenntnis treibende Gott ist vielmehr nichts anderes als das eigene absolute Gesetz des Geistes. Alles Tun des Geistes ist deshalb nur ein Erfassen seiner selbst, und der Zweck aller wahrhaften Wissenschaft ist nur der, daß der Geist in allem, was im Himmel und auf Erden ist, sich selbst erkenne. Ein durchaus Anderes ist für den Geist gar nicht vorhanden. Selbst der Orientale verliert sich nicht gänzlich in dem Gegenstande seiner Anbetung. Die Griechen aber haben zuerst das, was sie sich als das Göttliche gegenüberstellten, ausdrücklich als Geist gefaßt, doch sind auch sie weder in der Philosophie noch in der Religion zur Erkenntnis der absoluten Unendlichkeit des Geistes gelangt; das Verhältnis des menschlichen Geistes zum Göttlichen ist daher bei den Griechen noch kein absolut freies. Erst das Christentum hat durch die Lehre von der Menschwerdung Gottes und von der Gegenwart des Heiligen Geistes in der gläubigen Gemeine dem menschlichen Bewußtsein eine vollkommen freie Beziehung zum Unendlichen gegeben und dadurch die begreifende Erkenntnis des Geistes in seiner absoluten Unendlichkeit möglich gemacht. ... Nur eine solche Erkenntnis verdient fortan den Namen einer philosophischen Betrachtung. Die Selbsterkenntnis in dem gewöhnlichen trivialen Sinn einer Erforschung der eigenen Schwächen und Fehler des Individuums hat nur für den Einzelnen - nicht für die Philosophie - Interesse und Wichtigkeit, selbst aber in bezug auf den Einzelnen um so geringeren Wert, je weniger sie sich auf die Erkenntnis der allgemeinen intellektuellen und moralischen Natur des Menschen einläßt und je mehr sie, von den Pflichten, dem wahrhaften Inhalt des Willens absehend, in ein selbstgefälliges Sichherumwenden des Individuums in seinen ihm teuren Absonderlichkeiten ausartet. - Dasselbe gilt von der gleichfalls auf die Eigentümlichkeiten einzelner Geister gerichteten sogenannten Menschenkenntnis. Für das Leben ist diese Kenntnis allerdings nützlich und nötig, besonders in schlechten politischen Zuständen, wo nicht das Recht und die Sittlichkeit, sondern der Eigensinn, die Laune und Willkür der Individuen herrschen, - im Felde der Intrigen, wo die Charaktere nicht auf die Natur der Sache sich stützen, vielmehr durch die pfiffig benutzte Eigentümlichkeit anderer sich halten und durch dieselben ihre zufälligen Zwecke erreichen wollen.
G.W.F. Hegel Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) >>>
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