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                                                                                                                                manfred herok    2014

G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie / ... / B.Kant


Wir wollen dem Gange Kants folgen.
Die kantische Philosophie hat unmittelbare Beziehung auf das, was oben von Hume angeführt ist
(S. 276 ff.). Der allgemeine Sinn der Kantischen Philosophie ist der,
daß sich solche Bestimmungen wie die Allgemeinheit und Notwendigkeit nicht in der Wahrnehmung finden, wie Hume gezeigt hat; sie haben also eine andere Quelle als das Wahrnehmen,
und diese Quelle ist das Subjekt, Ich in meinem Selbstbewußtsein.


Dies ist der Hauptsatz der Kantischen Philosophie.
Sie wird auch kritische Philosophie genannt, indem ihr Zweck zunächst ist,
sagt Kant,
eine Kritik des Erkenntnisvermögens zu sein.3)
Vor dem Erkennen muß man das Erkenntnisvermögen untersuchen.
Das ist dem Menschenverstand plausibel, ein Fund für den gesunden Menschenverstand.
Das Erkennen wird vorgestellt als ein Instrument, die Art und Weise, wie wir uns der Wahrheit bemächtigen wollen; ehe man also an die Wahrheit selbst gehen könne, müsse man zuerst die Natur,
die Art seines Instruments erkennen. Es ist tätig; man müsse sehen, ob dies fähig sei, das zu leisten, was gefordert wird, - den Gegenstand zu packen; man muß wissen, was es an dem Gegenstand ändert, um diese Änderungen nicht mit den Bestimmungen des Gegenstandes selbst zu verwechseln.4)
- Es ist, als ob man mit Spießen und Stangen auf die Wahrheit losgehen könnte.
Vor der Wahrheit erkennt das Erkennen nichts Wahres; es geht ihm dann wie den Juden,
der Geist geht mitten hindurch. Das Erkenntnisvermögen untersuchen heißt, es erkennen.
Die Forderung ist also diese: man soll das Erkenntnisvermögen erkennen, ehe man erkennt;
es ist dasselbe wie mit dem Schwimmenwollen, ehe man ins Wasser geht.
Die Untersuchung des Erkenntnisvermögens ist selbst erkennend, kann nicht zu dem kommen,
zu was es kommen will, weil es selbst dies ist, - nicht zu sich kommen, weil es bei sich ist.

Indem Kant so das Erkennen der Betrachtung unterwirft, so ist dies ein großer, wichtiger Schritt.
Diese Kritik des Erkennens betrifft also das empirische Erkennen Lockes, das vorgibt, es gründe sich auf Erfahrung, und die mehr metaphysische Art des Wolffischen und deutschen Philosophierens überhaupt, welches die Wendung genommen hatte, nach der mehr empirischen Manier zu verfahren, die geschildert ist. - Im Praktischen herrschte damals die sogenannte Glückseligkeitslehre, die Moral war auf Triebe gegründet;
der Begriff des Menschen und die Art, wie er diesen Begriff realisieren soll, ist aufgefaßt als Glückseligkeit, seine Triebe zu befriedigen. Kant hat richtig gezeigt, daß dies eine Heteronomie, nicht Autonomie der Vernunft sei, eine Bestimmung durch Natur, somit ohne Freiheit.
Aber weil das Kantische Vernunftprinzip freilich formal und sie von der Vernunft aus nicht weiterkonnten und doch die Moral einen Inhalt erhalten sollte,
so sind Fries und andere wieder Glückseligkeitslehrer, hüten sich freilich, es so zu heißen.
- Wir sehen einerseits gesunden Menschenverstand, Erfahrung, Tatsachen des Bewußtseins.
Andererseits ist aber auch noch Wolffisches Metaphysizieren im Schwange gewesen,
wie z. B. bei Mendelssohn.
Dies Metaphysizieren hat sich unterschieden gehalten von dem bloß empirischen Verfahren;
aber seine Haupttätigkeit hat darin bestanden, den Gedankenbestimmungen,
wie z. B. Möglichkeit, Wirklichkeit, Gott usf., Verstandesbestimmungen zugrunde zu legen und damit zu räsonieren. Gegen beides ist zunächst Kantische Philosophie gerichtet.
(Hume geht gegen die Allgemeinheit und Notwendigkeit jener Bestimmungen, Jacobi gegen die Endlichkeit derselben, Kant gegen die Objektivität derselben, obzwar sie objektiv sind im Sinne des Allgemeingültigen und Notwendigen.)
Der Hauptsatz derselben ist der einfache, der schon angeführt ist.
Erschwert wird ihr Studium durch die Breite, Weitläufigkeit und eigentümliche Terminologie, in der sie vorgestellt ist. Indessen hat die Breite auch einen Vorteil; dasselbe wird oft wiederholt,
so daß man die Hauptsätze behält und nicht leicht aus dem Auge verlieren kann.
- Ich will die Hauptmomente kurz anführen.

Das Erste, Allgemeinste ist dies. Kant ist von Hume ausgegangen. Hume zeigt gegen Locke,
daß Notwendigkeit und Allgemeinheit nicht in der Wahrnehmung anzutreffen seien; Locke sagt,
der Geist sei tabula rasa, und durch Erfahrung bekommen wir sie. Kant gibt nun sogleich von Haus aus zu,
daß in der Wahrnehmung keine Notwendigkeit und Allgemeinheit, nämlich in den äußeren Dingen selbst,
daß aber zugleich Notwendigkeit und Allgemeinheit doch vorhanden sind, in den Beispielen der Mathematik und Naturwissenschaft. 5) 
Die Frage ist nun: wo sind sie zu finden?
Daß wir die Allgemeinheit und Notwendigkeit, als welches erst das Objektive ausmache,
verlangen, dieses Faktum läßt Kant stehen.
Aber, sagt er dann gegen Hume, weil nun Notwendigkeit und Allgemeinheit nicht in den äußeren Dingen ist,
so müssen sie a priori, d. h. in der Vernunft selbst liegen, in der Vernunft als selbstbewußter Vernunft; sie kommen dem Denken zu.
Auf der andern Seite setzt er sich der Wolffischen Metaphysik entgegen, nimmt den Bestimmungen derselben die sachliche Bedeutung und zeigt, wie sie bloß dem subjektiven Denken zugeschrieben werden müssen. - Gleichzeitig erklärte sich auch Jacobi gegen diese Metaphysik; aber da er besonders von den Franzosen und Deutschen ausging, so war sein Gesichtspunkt ein anderer: daß nämlich unser endliches Denken nur endliche Bestimmungen zu setzen, also Gott, Geist nur nach endlichen Verhältnissen zu betrachten wisse.

Diese Bestimmungen des Denkens sind näher von der Art, daß sie Bestimmungen der Allgemeinheit,
der Einheit überhaupt sind. Einheit heißt die Verknüpfung von unterschiedenen Bestimmungen, und das Denken nennt Kant insofern Synthesieren, Verknüpfen.
Das Denken enthält aber schon in ihm selbst, in seinen Bestimmungen solche Verknüpfungen;
es ist ein Einen, ein Vereinen von Unterschieden.
Die Unterschiede sind der Stoff, der durch die Erfahrung gegeben ist; und um diesen Stoff zu verknüpfen,
muß in den subjektiven Bestimmungen schon die Anlage sein, sie verknüpfen zu können, wie in Ursache und Wirkung (Kausalität) usf. Dies ist für sich selbst eine Verknüpfung.

Kant stellt nun die Frage der Philosophie auch so:
"Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" 6) Urteil heißt Verknüpfung von Gedankenbestimmungen, wie Subjekt und Prädikat; Synthesieren heißt Verknüpfen. Synthetische Urteile a priori sind nichts anderes als ein Zusammenhang des Entgegengesetzten durch sich selbst oder der absolute Begriff,
d. h. Beziehungen von unterschiedenen Bestimmungen, Verknüpfungen, die nicht durch die Erfahrung gegeben sind, wie Ursache und Wirkung usf.; es sind Denkbestimmungen.
Hume zeigt schon, daß sie nicht in der Erfahrung sind. Da ist nun Raum und Zeit das Verbindende;
sie sind also a priori, d. h. im Selbstbewußtsein.
Das ist die große Seite dieser Philosophie. Kant zeigt dies auf, daß das Denken in sich konkret sei, synthetische Urteile a priori habe, die nicht aus der Wahrnehmung geschöpft werden.
Die Idee, die darin liegt, ist groß; aber die Ausführung selbst bleibt innerhalb ganz gemeiner, roher, empirischer Ansichten und kann auf nichts weniger Anspruch machen als auf Wissenschaftlichkeit.
Und anderenteils erhält dies wieder einen ganz gemeinen Sinn.
Es ist Mangel an philosophischer Abstraktion in der Darstellung, in gemeinster Weise gesprochen.
Von der barbarischen Terminologie nicht zu sprechen, bleibt Kant innerhalb der psychologischen Ansicht und empirischen Manier eingeschlossen.

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3) Kritik der reinen Vernunft (6. Aufl., Leipzig 1818), Vorrede, S. XVIII-XIX [B XXV-XXVII]

4) Kritik der reinen Vernunft (6. Aufl., Leipzig 1818), S. 1 [B 1 f.]

5) Kritik der reinen Vernunft (6. Aufl., Leipzig 1818), S. 4, 11, 13 [B 4 f., 13 f., 17]

6) Kritik der reinen Vernunft (6. Aufl., Leipzig 1818), S. 15 [B 19]

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