G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie / ... / B.Kant
Kant nennt nun seine Philosophie deshalb Transzendentalphilosophie (diese Ausdrücke sind barbarisch), d. h. ein System der Prinzipien der reinen Vernunft, d. h. der Prinzipien, die das Allgemeine und Notwendige in dem selbstbewußten Verstande aufzeigen, ohne sich mit Gegenständen zu beschäftigen 7), noch zu untersuchen, was Allgemeinheit und Notwendigkeit sei; dies wäre transzendent. Transzendent und transzendental ist zu unterscheiden. Die transzendente Mathematik ist die, in der die Bestimmung des Unendlichen vornehmlich gebraucht wird. In dieser Sphäre der Mathematik sagt man z. B., der Kreis besteht aus unendlich vielen geraden Linien; die Peripherie wird vorgestellt als gerade, und indem so das Krumme als Gerades vorgestellt wird, so geht dies über die geometrische Bestimmung hinaus, ist so transzendent. - Die Transzendentalphilosophie bestimmt Kant so, daß es nicht eine Philosophie sei, die mit Kategorien hinausgeht über ihre Sphäre, sondern die die Quellen aufzeigt von dem, was transzendent werden kann; es bezieht sich dieser Ausdruck nur auf die Quellen solcher Bestimmungen, und dies ist das Bewußtsein. Transzendent würde das Denken sein, wenn diese Bestimmungen von Allgemeinheit, Ursache und Wirkung vom Objekt ausgesagt würden; man würde vom Subjektiven in ein Anderes transzendieren. Dazu sind wir dem Resultat nach nicht berechtigt, aber schon im Anfange nicht, da wir das Denken nur innerhalb seiner betrachten. Wir wollen also nicht die Bestimmungen in ihrem objektiven Sinne betrachten, sondern insofern das Denken die Quelle solcher synthetischen Beziehungen ist; das Transzendentale besteht darin, im subjektiven Denken solche Bestimmungen aufzuzeigen. Das Notwendige und Allgemeine erhält hier die Bedeutung, in dem menschlichen Erkenntnisvermögen zu liegen. Von diesem menschlichen Erkenntnisvermögen aber unterscheidet Kant noch das Ansich, Ding-an-sich; so daß jene Allgemeinheit und Notwendigkeit doch zugleich nur eine subjektive Bedingung des Erkennens ist, daß die Vernunft mit ihrer Allgemeinheit und Notwendigkeit doch nicht zur Erkenntnis der Wahrheit kommt. Denn sie hat als Subjektivität zur Erkenntnis der Anschauung und Erfahrung nötig, eines empirisch gegebenen Stoffes. Dies sind die Bestandstücke, wie es Kant nennt, derselben; ein Stück hat sie an ihr selbst, das andere aber ist das empirisch gegebene. Wenn die Vernunft für sich sein will, an ihr selbst und aus ihr selbst Wahrheit schöpfen will, so wird sie transzendent, sie überfliegt die Erfahrung, weil sie des anderen Bestandstücks entbehrt, und erzeugt dann bloße Hirngespinste. Sie ist daher im Erkennen nicht konstitutiv, sondern nur regulativ; sie ist die Einheit und Regel für das sinnliche Mannigfaltige. Diese Einheit aber für sich ist das Unbedingte, das, die Erfahrung überfliegend, nur in Widersprüche gerät. Im Praktischen nur ist die Vernunft konstitutiv. Die Kritik der Vernunft ist eben dies, nicht die Gegenstände zu erkennen, sondern die Erkenntnis und die Prinzipien derselben, ihre Grenze und Umfang, daß sie nicht überfliegend wird.8) - Dies ist das Allgemeine, das wir nun in seinen einzelnen Teilen näher betrachten wollen.
Näher nimmt Kant den Weg, daß er 1. die theoretische Vernunft betrachtet, die Erkenntnis, die sich auf äußere Gegenstände bezieht. Er untersucht 2. den Willen als Selbstverwirklichung; 3. die Urteilskraft, die eigentliche Betrachtung der Einheit des Allgemeinen und der Einzelheit; wie weit sie es da bringt, werden wir ebenfalls sehen. Die Kritik des Erkenntnisvermögens ist aber die Hauptsache.
7) Kritik der reinen Vernunft (6. Aufl., Leipzig 1818), S. 19 [B 25 f.]
8) Kritik der praktischen Vernunft, S. [A] 254; Kritik der Urteilskraft (3. Aufl., Berlin 1799), Vorrede, S. [B] V
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