Die Nacht der Welt
Hegels Empörung gegen Kant, gegen dessen 100-Taler Argument, - ist diese Empörung nicht moralisch?
Kant stellt fest, dass 100-Taler dem Begriff nach dasselbe sind, ob ich sie habe oder nicht habe.
Ob ich aber 100-Taler besitze oder nur ihren Begriff macht einen Unterschied. Das ist von Kant natürlich nicht ohne Witz gesagt und kam beim Publikum gut an:
Der Begriff Gottes, - Kant hatte ihn gerade entwickelt, als transzendentales Ideal, - sagt noch nichts aus über das Sein Gottes. Im Gegenteil. Kant warnt vor der Personifizierung des Begriffs, der zwar als Ideal der Vernunft seine Wirklichkeit hätte, sogar seine Notwendigkeit und auch seinen Zweck als Ideal, der aber deshalb nicht als Beweis vom Dasein Gottes genommen werden könne.
Aber nicht nur Kants Witz, sein praktischer Sinn, kam an beim Publikum, auch noch das Resultat seiner Kritik an den metaphysischen Gottesbeweisen hatte etwas Tröstliches. Denn nicht nur macht Kant Schluss mit dem Aberglauben, dass wir die Sache selbst in ihrer Existenz hätten, wenn wir den Begriff haben, so dass die alten metaphysischen Beweise (hier der ontologische) erledigt sind, sondern Kant entwickelt gleichzeitig den Begriff Gottes als ideale Idee 14, die jeglicher Freiheit und Vernunft vorausgesetzt ist. Das Dasein Gottes ist damit, nach Kant, nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt. Gott ist notwendiges und vernünftiges Ideal, Inbegriff aller Wirklichkeit und aller Möglichkeit und sein Dasein ist eben ein Modus dieser Idealität als Garant der Freiheit, - einer aufgeklärten Freiheit.
Mit Kant, vielleicht seit Kant, kann man Atheist und Christ gleichzeitig sein, aber auch die Theologen können mit ihm leben, denn wenn wir den Begriff haben ist damit zwar die Existenz der Sache nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt.
- Doch Hegel regt sich auf und nennt Kants Argumentation „barbarisch“.
Wenn Hegel sagt: „Die Zurückweisung vom besonderen endlichen Sein zum Sein als solchem in seiner ganzen abstrakten Allgemeinheit ist wie als die aller erste theoretische, so auch sogar praktische Forderung anzusehen“.15, dann darf man die schockierende Konsequenz dieser praktischen Forderung nicht übersehen.
Für Hegel ist die Zurückweisung des besonderen endlichen Seins durch die wir auf das ganz abstrakte Sein gelenkt werden, keine nur theoretische Akrobatik, sondern praktische Forderung. In dem wir das besondere Endliche Sein zurückweisen, und nur dadurch, öffnen wir das Feld einer ganz abstrakten Allgemeinheit, das Feld der Theorie oder der reinen Gedanken. Was wir wahrnehmen durch diese Zurückweisung, ist im besten Sinne „übersinnlich“ als jenseits der Vorstellung.
Kants Beispiel von den 100 Talern ist in dem Moment plausibel, in dem wir Begriff mit Vorstellung verwechseln: Vorgestellte 100 Taler sind nicht das Cash, das ich auf Tasche haben muss, wenn es mir um den Eintausch in besonderes endliches Sein geht. Hegel fordert: „Das Denken oder Vorstellen, dem nur ein bestimmtes Sein, das Dasein, vorschwebt, ist zu dem erwähnten Anfange der Wissenschaft zurückzuweisen, ...“ 16
Dieser Akt der Zurückweisung öffnet das Feld des konkreten Begriffs und weil es sich um einen Begründungsakt handelt ist diese Zurückweisung nicht nur aller erste theoretische sondern ebenso praktische Forderung. Und zwar schockierende Forderung:
„Wenn nämlich ein Aufhebens von den hundert Talern gemacht wird, ..., ob ich sie habe oder nicht, noch mehr, ob Ich sei oder nicht, ob Anderes sei oder nicht, so kann ... daran erinnert werden, dass der Mensch sich zu dieser abstrakten Allgemeinheit in seiner Gesinnung erheben soll, in welcher es ihm in der Tat gleichgültig sei, ob die hundert Taler ... seien oder ob sie nicht seien, ebenso sehr als es ihm gleichgültig sei, ob er sei oder nicht, d. i. im endlichen Leben sei oder nicht ...“ 17
Was hier nicht übersehen werden darf, ist die radikale Unsittlichkeit dieser moralischen Forderung. Die abstrakte Allgemeinheit zu der der Mensch sich in seiner Gesinnung erheben soll ist NICHTS. Der Akt der Erhebung ist ein nihilistischer Akt in dem gleichgültig wird ob ich bin oder nicht bin, ob Anderes ist oder nicht ist.
Hegel erinnert nur an diese Forderung indem er an das Wort von Horaz (s. o.) erinnert, allerdings mit dem Zusatz: „ ... und der Christ soll sich noch mehr in dieser Gleichgültigkeit befinden.“ 18
Hegel sagt es sehr präzise: Wenn ein Aufhebens gemacht wird, ob ich habe oder nicht, dann noch mehr, ob Ich Sei oder nicht ... Und das eine wie das andere hat gleichgültig zu sein, ob es sei oder nicht.
Die Unsittlichkeit dieser Forderung kann man sich zur Vorstellung bringen dort, wo Hegels Wissenschaft des absoluten Geistes in der Weise der Vorstellung zur sinnlichen Wirklichkeit gekommen ist: in der Religion.
Für Hegel haben Philosophie und Religion denselben Inhalt und seine Philosophie des Absoluten findet sich vorgestellt als Offenbarung Gottes in Christus. Aber nicht im pathetischen Bild, auch nicht im phantasmatischen Vorbild, dem nachzulaufen ist sondern in den konkreten „Forderungen der Nachfolge“ finden wir dieselbe radikale Zurückweisung des besonderen endlichen Seins. In Lukas 14 19 wird in den Taten und Worten Jesu vorgestellt, wie das christliche „Alles-aufgeben“ erst die Fülle des Lebens konstituiert oder was es mit der Wiedergeburt aus dem Geiste auf sich hat oder wie der Akt praktisch aussieht, der als ultimativer Skandal mit der Sittlichkeit bricht, die den Menschen im Banne seiner ethnisch-ethischen Substanz gefesselt hält.
Aus der Perspektive der sittlichen Substanz kann die Liebe nur als Verbrechen (Hass) wahrgenommen werden, als Verbrechen, Skandal, Wahnsinn.
„Er will sich selbst töten!“, sagte man aus der sittlichen Volksperspektive zusammen mit: „Er hält sich selbst für Gott.“
Von Christus aus gesehen hat er / ER Blinde vor sich, die ihn / IHN – dieses Tun des Wortes, diese Bewegung der Subjektivierung (der ethisch-ethnischen Substanz), diese Nacht abstrakter Negativität, nicht als die Quelle eben dieser Substanz wahrnehmen können. Der Bruch der Norm ist kein relativer, der sich weise reformierend im Rahmen eines vorgeblichen Guten bewegt, sondern der Bruch ist absolut und maßlos. Und genau deshalb ist er die Liebe, die „alles neu macht“. Äußerlich ändert sich nichts, - in diesem Sinne „kam Er in das Seine und die Seinen erkannten Ihn nicht“.
Diese Zitate sind schon Zitate von Zitaten. Christus zitiert die Thora: Sein Tun ist das einzig wahre Tun, das den Juden schon durch das Gesetz aufgegeben ist. Jesus vollbringt nur diese Wirklichkeit: Er kehrt aus dem Eigenen ins Eigene zurück und zwar genau in seiner „Wahnsinnstat“ absoluter Negation. Oder bildlich: Er nimmt den Tod auf sich. Das ist nicht nur bildlich, sondern gleichzeitig „praktisch“, also real, aber indem sich diese Transsubstantiation ganz auf dem Boden der jüdischen Religion des Einen vollzieht, ist sie Umwandlung (Tod und Wiedergeburt) im Wort durch das Wort.
Die Bilder schöner Mehrgötterwelten sind schon in der jüdischen Sittlichkeit aufgehoben. Vater, Mutter, Geschwister, Gatte und Kinder sind schon Selbst und Liebe. Christus greift die Selbstliebe an, die in der Familie als lebendige substantielle Liebe wirklich ist. Etwa so: „Wer sein Leben nicht hasst...“
Das ist von dieser Liebe her völlig unverdaulich, nicht integrierbar, ohne Achtung, Weisheit, Güte oder Gerechtigkeit.
Die Wahrheit der „Forderung der Nachfolge“ spiegelt sich sozusagen unmöglich in der Blindheit und Taubheit der „Masse“.
Für Christus zeigt: „Er will sich umbringen...“ etc, dass sie das Wort nicht verstehen. Als ob es um den Tod des Körpers ginge, der auch zu Gottes Gerechtigkeit gehört und den jeder tierisch fürchtet. Selbstmord im körperlichen Sinne (als Imagination der Teilnahme an der eigenen Beerdigung etc.) wäre gerade eine Eintragung in das symbolische Netz, das die sittliche Substanz trägt und nicht dessen Verwandlung. Wirkungsvoll, nämlich wirklich „bestimmtes Sein setzend“ und / oder setzendes Sein (selbst) bestimmend, jenseits gegebener Vorstellungen, ist erst der „symbolische“ Tod.
Das Reale als körperliche Einzelheit vorgestellt hält sich im Imaginären auf. Der Bruch oder die Zurückweisung vom besonderen endlichen Sein zum Sein als solchem in seiner ganz abstakten Allgemeinheit ist ein Akt, der sich schon äußerlich selbst voraussetzt als absolute Subjektivität des Einen. Das Reale ist hier (im Jüdischen Gott) schon nicht mehr vom Idealen getrennt und als Gottes Wort symbolische Substanz. Innerhalb der moralischen (ursprünglich jüdischen) „Substanz“, d. h. im Gesetz, tut sich die Lücke des Realen auf, die diese „Substanz“ konstituiert.
Die Vernichtung der Bilder, der Anschauungen, Vorstellungen und imaginären alltäglichen Beziehungen, ihr Untergang in die „Nacht der Welt“, vollzieht sich in dem Einen.
Und dann ist Vater nicht mehr (nur) Vater, Mutter nicht Mutter... Selbst nicht Selbst, sondern diese Nacht ist die absolute Negativität, die einem im Nächsten begegnet.
Selbstverständlich finden wir diese „Vision“ auch bei Hegel und zwar an der Stelle, in dem Moment der Verwandlung in dem Hegel überhaupt erst zu Hegel wird: (Wie Slayoj Zizek “entdeckt” und gründlich herausgearbeitet hat...>>>)
„Der Mensch ist diese Nacht, dies leere Nichts, das alles in ihrer Einfachheit enthält – ein Reichtum unendlich vieler Vorstellungen, Bilder, deren keines ihm gerade einfällt -, oder die nicht[s] als gegenwärtige sind. Dies die Nacht, das Innere der Natur, das hier existiert – reines Selbst, - in phantasmagorischen Vorstellungen ist es rings um Nacht, hier schießt dann ein blutig Kopf, - dort eine andere weiße Gestalt plötzlich hervor, und verschwindet ebenso. – Diese Nacht erblickt man, wenn man dem Menschen ins Auge blickt – in eine Nacht hinein, die furchtbar wird, - es hängt die Nacht der Welt hier einem entgegen.“ 20
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