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                                                                                                                                manfred herok    2014

Sein oder Nichtsein?
- das ist hier nicht die Frage!

 

Alles fließt

„Es wäre nicht schwer, diese Einheit von Sein und Nichts in jedem Beispiele, in jedem Wirklichen oder Gedanken aufzuzeigen. Es muß vom Sein und Nichts gesagt werden,
daß es nirgend im Himmel und auf Erden etwas gebe, was nicht beides, Sein und Nichts, in sich enthielte.1„

- “Die populären, besonders orientalischen Sprüche, daß alles, was ist, den Keim des Vergehens in seiner Geburt selbst habe,
der Tod umgekehrt der Eingang in neues Leben sei, drücken im Grunde dieselbe Einigung von Sein und Nichts aus.
“ 2

Was ist das Problem mit diesen populären orientalischen Sprüchen?

Hegel fährt fort: „Aber diese Ausdrücke haben ein Substrat, an dem der Übergang geschieht; Sein oder Nichts werden in der Zeit auseinandergehalten, als in ihr abwechselnd vorgestellt, nicht aber in ihrer Abstraktion gedacht, und daher auch nicht so, daß sie an und für sich dasselbe sind.“

Für Hegel ist das Erste, was geübt werden muß, zur Erkenntnis der Wahrheit und zur wahren Erkenntnis, die Abstraktion. Alles Weitere hängt an der Gründlichkeit dieses Anfangs:

Um Philosophie zu verstehen, muß man philosophieren und das heißt gerade nicht, daß man möglichst viel der Weisheiten wiedergibt, die man mit Löffeln gefressen hat, - das nennt Hegel „räsonieren“, sondern, daß man mit dem anfängt, was sozusagen auf der Hand liegt.

Das Bekannte ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.

Hegel erinnert an die Geistig Armen und an die Seligkeit derselben im Evangelium, wenn er vom Sein anfängt. Das reine Sein soll gedacht werden, nicht irgend etwas Bestimmtes, sondern das völlig Unbestimmte Sein schlechthin. Es soll den Anfang machen, also nicht durch irgend etwas vermittelt sein, und es soll rein sein, nicht ein bestimmtes Sein.

Hegel meint: „Den einfachen Gedanken des reinen Seins haben die Eleaten zuerst, vorzüglich Parmenides …“, also die geheimnisvollen „Vor-Sokratiker“.

„Den einfachen Gedanken des reinen Seins … als das absolute und als einzige Wahrheit, und, in den übergebliebenen Fragmenten von ihm, mit der reinen Begeisterung des Denkens, das zum ersten Male sich in seiner absoluten Abstraktion erfasst, ausgesprochen: nur das Sein ist, und das Nichts ist gar nicht.3

Man kann nicht „Hegel lernen“ ohne zunächst Hegel zu vergessen.

Für Hegel selbst ist das ganz klar gemacht, indem zunächst dem sinnlichen weltlichen Bewußtsein  „Hören und Sehen vergeht“  im Zuge des Durchgangs durch seine Phänomenologie des Geistes. Im Resultat dieser sozusagen Meditation, hat das Bewußtsein jede Äußerlichkeit, jede Substanz verloren und ist, „reines Wissen“. Für Hegel ist dieses absolute Bewußtsein, daß „alles aufgegeben hat“ und insofern Alles ist, der Anfang der reinen Logik – und seiner Begeisterung am reinen Sein.

Die Frage lautet: Was ist das reine Sein?

Darüber soll gedacht werden, das soll vorgestellt werden: Nicht etwas neben anderem, nicht etwas, in sich selbst näher Bestimmbares, nichts vor einem Hintergrund Erscheinendes, nichts außerhalb der Erscheinungen oder Vorstellungen nicht etwas, das durch anderes bewirkt oder verursacht wird. Die hegelsche Antwort kennen wir: Reines Sein ist Nichts. Aber es geht nicht darum die Antwort zu wissen, sondern darum, sie zu suchen, d. h. die Richtung auf das Nichtsein festzuhalten.

Die Antworten kennen wir nicht nur von Hegel. „- In orientalischen Systemen, wesentlich im Buddhismus, ist bekanntlich das Nichts, das Leere, das absolute Prinzip. – Der tiefsinnige Heraklit hob gegen jene einfache und einseitige Abstraktion den höheren totalen Begriff des Werdens hervor und sagte: Das Sein ist sowenig als das Nichts, oder auch: Alles fließt, das heißt: Alles ist Werden.“4

Darum haben wir mit der Begeisterung am Anfang der Philosophie auch den Schrecken, den Schrecken des Absoluten und den Schrecken des Werdens. Denn genau hier haben wir Heraklits Krieg, als den Vater aller Dinge.

Nichts und wieder nichts?

Hegel, der gesagt hat, daß er alles, was von Heraklit überliefert ist, unterschreiben könne, ist sich erst schrittweise klargeworden, wie nahe er in seinen Anfängen der „Religion Chinas“ ist. In seinen ersten Manuskripten zur Religionsphilosophie gibt es keine chinesische Religion.

In seinem zweiten Kolleg stellt er sie als besondere Variante der Zauberei dar. Später sieht er sie als „Religion des Himmels“ aber immer noch im Sinne einer „Sonderform der Zauberei“.

Schließlich (im letzten Kolleg zur Religionsphilosophie) erhält sie den Titel „Religion des Maßes“ und formale Eigenständigkeit zugesprochen.

Durch Studium der Quellen verschiebt sich der systematische Ort der orientalischen Religionen in Hegels Religionsphilosophie. Die Epoche einer undifferenzierten Einheit des Geistigen und Natürlichen als Naturreligion fällt bei ihm nun nicht mehr mit den orientalischen Religionen zusammen.5

Mehrmals ändert sich für Hegel auch die Über- und Unterordnung der Religionen der Griechen und der Religion Israels, im Rahmen der „Kunstreligionen“. Tendenziell bewegen sich die orientalischen Religionen für Hegels Erkenntnis immer mehr aus dem Heidnischen hinaus ins Geistige und vielleicht läßt sich auch eine Tendenz erkennen, die das griechische gegenüber dem Jüdischen ins Heidnische zurückstuft.

Aber ich denke, Hegel ist hier in der „griechischen“ Substanz seiner Zeit befangen und nicht konsequent. – Nicht hegelsch genug. „- bei den Griechen finden wir uns heimatlich“6

Vielleicht läßt sich das erhellen, wenn wir zu unserem letzten Zitat zurückgehen:

„Der tiefsinnige Heraklit hob gegen jene einfache und einseitige Abstraktion den höheren totalen Begriff des Werdens hervor …“

Wir haben also die „einseitige Abstraktion“ der Leere, wie im Buddhismus, im Gegensatz zum „höheren totalen Begriff.“

Aber: „… dies Einfache, das sonst keine weitere Bedeutung hat, dies Leere ist also schlechthin der Anfang der Philosophie.“7

Es gibt für Hegel offenbar Abstraktion und Abstraktion: Die unbedingte Notwendigkeit mit dem Abstraktesten nicht nur anzufangen, sondern die Kraft des Geistes und der Seele genau darin auszubilden, dieses Abstrakte festzuhalten. Das ist für Hegel nicht nur das A sondern das A & O. Die Abstraktionskraft des Verstandes ist die totale und einzige Kraft überhaupt, die nicht nur im bewußten Denken wirkt, sondern Kern allen Bewußtseins überhaupt ist, bis in Gefühl Empfindung, Zuneigung, Abneigung, Begehren, Trieb … hinein.

Alles was ist, daß Etwas ist und nicht Nichts, oder: Was die Welt im Innersten zusammenhält, ist eben diese Kraft des Nichts.

Diese Kraft ist nicht nur im Anfang, sondern auch weiterhin der Kern aller Dinge. Warum? „Alles fließt!“ würde nicht nur Heraklit sagen, sondern auch Laotse. Alles ist Werden.
Und Werden ist nicht abstrakt, sondern konkret, denn es ist die Einheit von Sein und Nichts. Diese konkrete Totalität zu fassen, dazu ist die Kraft der Abstraktion notwendig, damit wir uns nicht mittels konkreter Vorstellung von Etwas in eine Abstraktion verwickeln. Werden soll hier als Begriff gefaßt werden, nicht als weiter bestimmtes Etwas mit Dasein. Dasein allgemein und dann bestimmtes Etwas schlechthin soll sich aus dem reinen Werden „von selbst“, rein logisch ergeben und nicht sozusagen „von unten“ im Äußerlichen, Vorgestellten oder Gedachten nur entdeckt oder „aufgeklaubt“, wie Hegel sagt, werden.

Reines Sein ist kein Begriff. Es gibt in der Absoluten Abstraktion nichts zu begreifen, nichts zu denken, nichts vorzustellen. Es ist auch nicht das Unvorstellbare, das wir in irgendeiner Form mit Inhalt haben könnten, denn dann wäre es etwas mit (geistigem) Dasein. Reines Sein ist unmittelbar Nichts; nicht ein Nichts, das nur als Abwesenheit von allem Seienden vorgestellt wird.

Was liegt näher, als endlich die Geduld zu verlieren, wenn es immerzu um Nichts und wieder Nichts geht? Aber es geht nicht um Nichts – und – wieder – Nichts.
Das wäre schon zuviel gesagt, denn dann hätten wir eine Serie von Gleichen, die sich in der zeitlichen Reihe voneinander unterscheiden und nicht das reine Nichts sind.

Sollte man dann nicht, wie der junge Wittgenstein, über das, worüber man nichts sagen kann, schweigen?

Man muß darüber schweigen, sagt der Jung-Philosoph, weil man darüber nichts sagen kann, und merkt nicht, daß sein Verbot der Unmöglichkeit nicht weniger paradox ist,
als die unmögliche Sache selbst.
Reines Sein und reines Nichts sind dasselbe und sie sind kein Begriff, weil keine Erscheinung stattfindet, keine Beziehung herrscht, nichts sich gegen etwas anderes verhält.
Und doch ist mit Sein etwas völlig anderes gemeint als mit Nichts. Gemeint mit Nichts ist in der Vorstellung völlige Finsternis, während Sein vielmehr die absolute Fülle des Lichts ist. Also ist noch Hoffnung? Können wir den unmittelbaren Zusammenfall von Sein und Nichts doch noch aufhalten, durch die Vorstellung des reinen Lichts?
Nein! – Im reinen Licht ohne jeden Schatten gibt es nichts zu sehen, keine Farbe,
keinen Glanz.
Das reine Licht, das wir sehen oder vorstellen können erscheint nur, weil Finsternis darin eingemischt ist und ebenso gibt es keine Finsternis außer im Zusammenhang mit Licht.

Wir meinen zwar etwas, aber wir sagen etwas anderes. Und genau das merken wir nur, wenn wir Jung-Wittgensteins Denkverbot durchbrechen und uns auf das Unmögliche beziehen, das jede denkbare Konkretion zunichte macht.

Es bleibt nicht beim reinen Sein oder beim Nichts, denn schon der Gedanke,
daß reines Sein nicht ein Seiendes ist, bringt dieses Nichts (reines Sein) mit etwas (Dasein) in Beziehung, so daß es durch Daseiendes (negativ) bestimmt ist.
Dasein ist Nicht-Nichts, - Negation der Negation.
Dasein ist wirkliches Sein und Begriff. Auf taoistisch gesagt, quantitativ ausgedrückt:
Die ursprüngliche himmlische Eins (Yang) kann nur als Drei erscheinen. Fragen wir bei dieser Gelegenheit kurz, wo die Zwei (Yin) steckt, die irgendwie direkt für sich selbst auftreten kann. Die hegelsche Antwort kann nur heißen: Im Werden.
Denn Werden ist zwar so etwas wie konkrete Totalität, aber noch kein Begriff.
Das reine Werden noch vor dem Dasein, darf nicht als Werden und Vergehen von konkreten substantiellen Dingen oder geistigen Entitäten vorgestellt werden,
sondern als der Vor-Begriff, der das unmittelbare Ineinanderfallen von Sein und Nichts „begreift“. Auch Werden, als Vor-Begriff des Daseins, ist noch kein wirklicher Begriff. Werden gehört, wie Sein und Nichts noch zum Unmöglichen. Über das Werden zu sagen es sei die Einheit von Sein und Nichts gehört zum Meinen, denn so wäre es die Einheit von zweien, die immer untrennbar waren.

Mehr als alles andere könnte man deshalb den „Begriff“ des Werdens an dieser Stelle der hegelschen Logik für überflüssig halten.

(So V. Hösle: „… muß man bemängeln, daß die Kategorie, die auf Sein und Nichts folgt, nicht unmittelbar das Dasein ist, sondern „Werden“ heißt. Denn wenn Sein und Nichts identisch sind, so kann (auf Objektebene) nicht ein Übergang zwischen ihnen stattfinden; in der Tat meint man mit „Werden“ ja gemeinhin auch nicht ein Entstehen und Vergehen aus bzw. in Nichts, sondern den Übergang einer Bestimmtheit in eine andere.“)8

Aber genau das unmögliche Werden, das nicht zur Objektebene gehört und nicht dem entspricht, was man gemeinhin damit meint, ist sozusagen die andere Seite des Daseins, nämlich die Seite der unmöglichen Freiheit reiner Subjektivität als Akt.

Das Werden ist in gewisser Weise „wieder nichts“ und was es ist, als unbedingte Dimension reiner Wandlung, wird gerade nur klar, wenn man es noch abgesehen vom Dasein als Werden schlechthin erfaßt.

Psychoanalytisch könnte man sagen: Werden ist unbewußt und deshalb die wahre subjektive Dimension des Handelns im Gegensatz zum Dasein, das die Person betrifft, als die das Subjekt sich selbst beschreibt.

Und vielleicht sehen wir heute das Dasein der Griechen weniger heimelig – ideal, weil wir auch das geschichtliche Werden der antiken Stämme kennen? Oder wir sehen in der Idee des unsichtbaren Schöpfergottes die Wahrheit, die tatsächlich der Vater absoluter Subjektivität ist, im Sinne eines Werdens, das sich letztlich auf nichts stützen kann jenseits selbstverantworteter Freiheit.

Abstraktion und Monstrosität

Wenn wir abstrahieren, sehen wir von etwas ab. Wir verzichten auf etwas.
Die Hinwendung auf das reine abstrakte Sein, so daß es sich als Nichtsein zeigt, ist radikaler Verzicht. Verzicht auf Etwas und Dasein überhaupt.

Wir üben geistige Askese.

Andererseits, wenn wir abstrahieren, - und das ist die zweite Bedeutung von Abstraktion -, dann verallgemeinern wir.
Wir verallgemeinern gedanklich und bringen etwas auf einen Begriff.
Wir machen irgend etwas zu einem bestimmten Etwas, indem wir es von etwas anderem unterscheiden, das es nicht ist. So bilden wir uns unsere Welt und uns selbst als das Ganze, das ist und nicht ist und was wir sind und nicht sind, was die anderen sind und nicht sind. Abstrahierend leben wir in der Welt der Fülle aller unserer überlieferten und selbsterarbeiteten Vorurteile.

Andererseits ist Abstraktion die radikale Überwindung genau dieser Welt; insofern radikaler Weltverzicht, totale Aufgabe unserer Abstraktionen. Evangelisch, nach Johannes, kann man das so sagen:
„Wer nicht alles aufgibt, was er hat, kann nicht mein Jünger sein“ ist „nur im Geist zu verstehen.“ Die radikale Abstraktion ist der Anfang des Geistigen.

Wenn wir Askese üben, üben wir eigentlich das Üben. Askese heißt ursprünglich Übung. Diese Übung ist das Absehen-von, Verzichten-auf … was?
„Alles“, sagt (nicht nur) Christus, - als, letztlich, auch Verzicht auf das Verzichten und Absehen vom Absehen oder Enthalten von der Askese, ganz im Sinne der Abstraktion von unserem Netzwerk der Abstraktionen.

Denn wer ist stärker an die Welt gebunden als der Asket, der die Qualen seines Verzichts auf irgend ein bestimmtes weltliches Etwas in aller Intensität genießt?
In dieser Fixierung erhält er sich selbst und zwar abstrakt als Asket.
Aber genau dadurch, daß er sich selbst in dieser bestimmten Abstraktion erhält,
verliert er sich selbst, nämlich als die absolute Kraft der Abstraktion, oder als Subjekt.

Auch wenn Askese ursprünglich Übung heißt, sagt man nichts Falsches,
wenn man darunter die streng enthaltsame und entsagende Lebensweise versteht,
zur Verwirklichung sittlicher und religiöser Ideale.
Im Gegenteil: Strenge und Verzicht finden sich vorausgesetzt auch im wissenschaftlichen, politischen, künstlerischen und philosophischen Handeln.
Das Problem ist nicht die Strenge, nicht die Enthaltung, nicht die Entsagung, sondern die Lebensweise. Nämlich die Frage, wo Leben anfängt: In einer bestimmten, substantiellen kulturell-sittlichen Art und Weise oder im reinen Denken, im Geist.

So kann man begreifen, was Christus den Priestern sagt:

„Ihr seid von unten, ich bin von oben;

ihr seid von dieser Welt,

ich bin nicht von dieser Welt.“ (Johannes, 8, 23)

Es gibt ein Von-Oben und ein Von-unten, einen prophetisch-moralischen und einen absoluten Anfang.

Vielleicht wird der Unterschied noch einmal deutlich, wenn man die „Arroganz“ bedenkt, die in der Selbsteinschätzung des Von-oben zu bestehen scheint, die die anderen offenbar klein macht. Man darf hier getrost auch mit an G. W. F. Hegel denken, als den „schwäbelnden“ Katheder-Philosophen, wenn er sich als absoluter Weltgeist outet …

Das Von-oben kann, was Christus betrifft, nur als horrende Überheblichkeit aufgefaßt werden.

„Er hält sich für Gott ….“ Christus dagegen behauptet sich als der Allerbescheidenste.
Er gibt dem Täufer Johannes recht: Der Prophet ist der wahre Führer Israels.
Christus ist in diesem Sinne Nichts. Gerade deshalb ist er viel mehr als das, was sich der gesunde Menschenverstand volkstümlich unter Gott vorstellt.

Darum kann und muß Christus sagen:

„Ich weiß wohl, daß ihr Abrahams Kinder seid; — Ihr habt den Teufel zum Vater, …“ (Johannes 8, 37 … 44)

und es kann und muß wohl ihm deshalb auch gesagt werden: „Wegen eines guten Werks steinigen wir dich nicht; sondern wegen der Gotteslästerung, denn du bist ein Mensch und machst dich selbst zu Gott.

Jesus antwortete ihnen: Steht nicht in eurem Gesetz geschrieben (Psalm 82,6):
 >Ich habe gesagt: Ihr seid Götter< ?“ (Johannes 10,33,34)

Und was Hegel betrifft, tritt ein ähnlicher Zusammenhang vielleicht nur scheinbar viel weniger dramatisch und relevant zu Tage, auch wenn die Herstellung dieses Zusammenhangs schon wieder auf seine eigene Weise als gotteslästerlich empfunden werden kann. Man mag das ultimative Drama der Hinrichtung des Gottessohns, nämlich den Tod Gottes nicht verglichen sehen mit innerphilosophischen Streitereien.

Hegel äußert sich nicht enthusiastisch religiös. Er vermeidet jede schwärmerische Begeisterung, als „nur erbaulich“, als dem reinen Denken der Wahrheit, in ihrer nüchternen Klarheit, wegen der Fülle der phantastischen Vorstellungen, hinderlich.

Der religiöse Enthusiasmus gehört zum Kult; die Philosophie soll im Geist und in der Wahrheit verstehen. Aber Hegels „reines Wissen“ in dem der Geist in sich selbst reinen Tisch gemacht hat, - tabula rasa -, löst dieselbe Befremdlichkeit aus, wie christliche Umkehr, Wiedergeburt, Versöhnung, Vergebung und Neuanfang beim (religiösen) Nullpunkt. Und natürlich ist im „deutschen Idealismus“ Hegels (und Schellings) dasselbe gemeint.

Und erstrecht als ungeheuerliche Monstrosität muß eine reine Logik empfunden werden,
ein System der reinen Vernunft, ein Reich des reinen Gedankens, der nackten Wahrheit…
Denn: „Dieses ‚Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist. Man kann sich deswegen ausdrücken, daß dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist.“9

Die Freiheit des Nichtbegehrens

Bei Laotse heißt es:

„Das beständige Nichtbegehren
führt zum Betrachten seiner Geheimnisse,
das beständige Begehren
führt zum Betrachten seiner Grenzen.“
Es geht um die Geheimnisse und Grenzen des Weges als Tao.”

Diese Übersetzung von S. Ulenbrook scheint auf den ersten Blick nicht viel Ähnlichkeit zu haben mit der von Richard Wilhelm

„Darum führt die Richtung auf das Nichtsein
zum Schauen des wunderbaren Wesens,
die Richtung auf das Sein
zum Schauen der räumlichen Begrenztheiten.“

Wir brauchen, um die Verbindung von Hegels Anfang mit dem Anfang als Tao herzustellen, den Begriff des Nichtseins. Reines Sein und Nichts sind identisch. Anders gesagt: Nichtsein ist die Identität des Seins, nämlich der reinen Identität und des Nichts, nämlich der Nichtidentität. Die taoistische Richtung auf das Nichtsein liefert uns den kleinen, armen Anfang der Philosophie – und zwar als den absoluten Anfang.

Die Einheit von geschichtlichem Anfang und logischem Anfang, wie ihn Hegel behauptet und konstruiert, ist hier gegeben. Es ist wahr, daß wir hier von einem viel späteren Standpunkt aus in den Taoismus etwas hineininterpretieren,
- aber nicht etwas, was in diesem Keim des abstrakten Denkens nicht auch
“vorhanden” ist.

wir dadurch nicht plötzlich die authentischen Taoisten sind, zeigt das Schwanken in den Möglichkeiten der Übersetzung. Wenn Richtung-Nichtsein gleichzeitig Beständig-ohne-Begehren bedeutet, dann ist in diesem alten Chinesischen, in den Wortbildern der Taoisten, etwas zusammen und gleichbedeutend, was sich für uns längst differenziert hat.

Aber deshalb müssen wir es nicht wegwerfen, sondern wir können sehen, wie Nichtsein und Nicht-Begehren immer auch einen engen Bezug haben, ja dasselbe sind, nur auf verschiedenen Ebenen.

Auch, wiederum, Hegel, wenn er völlig abstrakt und in absoluter Armut des Begriffs beim Sein/Nichts anfängt, schickt seiner Logik eine Einleitung voraus. In dieser geht es nicht zuletzt darum, zunächst von persönlichen Empfindungen und Interessen, Gefühlen, Leidenschaften und Begehrlichkeiten abzusehen, - vom Begehren zu abstrahieren.

„Wenn wir uns in eine Empfindung, Zweck, Interesse legen und uns darin beschränkt,
unfrei fühlen, so ist der Ort, in den wir daraus heraus – und in die Freiheit zurückzuziehen vermögen, dieser Ort der Gewißheit seiner selbst,
der reinen Abstraktion, des Denkens.“10

Wer denkt beim Nicht-Begehren nicht sofort an Askese? Wie wir gesehen haben, wird aber auch der religiöse Sinn von Askese nicht begriffen, wenn er nicht gleichzeitig geistig aufgefaßt wird, als Kraft der Abstraktion, - und das heißt als Akt der Freiheit. In diesem Sinne sind Nichtsein und Nichtbegehren dasselbe:
Das Selbe einmal auf psychologisch-sozialer Ebene, das andere Mal im Denken, philosophisch. Was wir selbstverständlich auseinanderhalten, ist, in den frühen Anfängen, noch undifferenziert ineinander. Trotzdem trifft die taoistische Weisheit genau den Punkt: Nur das beständige Nichtbegehren im Sinne von Richtung auf das Nichtsein führt auf dieses Reich der Wahrheit „ohne Hülle an und für sich selbst.“ (absolute Abstraktion)

Dagegen, das beständige Begehren, im Sinne von Richtung auf empirisches, sinnliches Sein, führt zum Betrachten der Grenzen, zum „Schauen der räumlichen Begrenztheiten (bestimmte Abstraktion)“

Und wieso kann Laotse dann weiter sagen: „Beides ist eins dem Ursprung nach.“?

Die hegelsche Antwort ist: Es gibt nichts im Himmel oder auf Erden, was nicht beides, Sein und Nichts, in sich enthält. Hegels Beispiele sind hier, wo Sein und Nichts nicht mehr in ihrer reinen Unbestimmtheit und Unvermitteltheit auftreten, z. B. das Positive und Negative, jenes das Gesetzte, reflektierte Sein, dieses das gesetzte, reflektierte Nichts. Oder was den Himmel betrifft:

Wenn von Gott die Rede ist, so werden ihm Qualitäten zugedacht: Tätige Liebe, Schöpfung, Macht …, welche wesentlich Bestimmungen des Negativen sind, indem sie Anderes hervorbringen. Bei jedem irdischen Ding ist es, genau wie Laotse erkannt hat, die Grenze, die jedes Etwas erst ausmacht.

„Aber der sich so nennende gemeine oder gesunde Menschenverstand mag auf den Versuch hingewiesen werden, insofern er die Ungetrenntheit des Seins und nichts verwirft, sich ein Beispiel ausfindig zu machen, worin eins vom anderen (Etwas von Grenze, Schranke, oder das Unendliche, Gott, wie so eben erwähnt, von Tätigkeit) getrennt zu finden sei.“11

Askese ist Luxus

Zum Schluß noch einmal zurück zur Askese. Wenn Hegel von Bildung und Zucht des Bewußtseins spricht, beim Studium seines Systems der Logik, dann ist das auch Askese im geläufigen Sinne. Aber ähnlich wie wir das von biblischen Sprüchen her kennen, geht es um eine Umkehr der Richtung des Bewußtseins, derart, daß es zu einer Befreiung von psychischen und sozialen Zwängen kommt.

Die „Bildung und Zucht“, von der Hegel spricht, ist natürlich absolute Bildung und Zucht. Und deshalb ist hier Askese dasselbe wie Luxus.

Taoistisch kann man das so sagen:

Da die Wahrheit, die sich in einem Satz aussprechen läßt, niemals die Wahrheit ist, darum finden wir das wunderbare Wesen nur abstrahierend von sinnlichen Anschauungen und Zwecken, von Gefühlen, von Erscheinungen, Vorstellungen und Urteilen.

Oder, mit Hegel: „Von seiner negativen Seite betrachtet, besteht dies Geschäft in dem Fernhalten der Zufälligkeit des räsonierenden Denkens und der Willkür, diese oder die entgegengesetzten Gründe sich einfallen und gelten zu lassen. Vornehmlich aber gewinnt der Gedanke dadurch Selbständigkeit und Unabhängigkeit.“12
Wodurch? Nun, durch die Welt der einfachsten Wesenheiten, durch das Reich der Schatten, von aller sinnlichen Konkretion befreit.
Das ist für Hegel das Logische: Eine Kraft, die am Anfang (des Studiums) für den Geist nicht bewußt da ist, durch das er aber darum nicht weniger empfängt, als „die Kraft in sich, die ihn in alle Wahrheit leitet.“13
Man weiß vielleicht nicht, ob man der Aufnahme Hegels einen Gefallen tut mit diesen wesentlichen Erinnerungen (an Hegels Grundlagen), bei einem relativistisch-postmodernen Publikum und bei Denkern, die gerade stolz darauf sind, jeglichen Absolutheitsanspruch oder Totalität, weit hinter sich gelassen zu haben.
Der Relativismus steht ja über allen immer nur relativen Wahrheiten und hält diesen Metastandpunkt für überparteiliche Bescheidenheit. Was man aber zunächst klar machen kann ist jedenfalls, daß Hegel sich nicht nur quasi-religiös anhört, was sein radikales Absehen von dem, was im Christlichen „Welt“ heißt, betrifft, sondern,
daß er es auch bewußt so meint:

„Die Zurückweisung vom besonderen endlichen Sein zum Sein als solchem in seiner ganz abstrakten Allgemeinheit ist wie als die aller erste theoretische, so auch sogar praktische Forderung anzusehen.

… so kann … daran erinnert werden, daß der Mensch sich zu dieser abstrakten Allgemeinheit in seiner Gesinnung erheben soll, in welcher es ihm in der Tat gleichgültig sei, ob die hundert Taler, … seien oder ob sie nicht seien, ebenso sehr als es ihm gleichgültig sei, ob er sei oder nicht, d. i. im endlichen Leben sei oder nicht (denn ein Zustand, bestimmtes Sein ist gemeint) usf. - selbst si fractus illabatur orbis, impavidum ferient ruinae, hat ein Römer gesagt, [- selbst wenn der Weltbau krachend einstürzt, treffen die Trümmer noch einen Helden -] und der Christ soll sich noch mehr in dieser Gleichgültigkeit befinden.“14       >>>

 Manfred Herok © 2000
 

1 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, Frankfurt am Main 1986, S. 86        >>>
2 s. o. , Seite 84                                                                                  >>>
3 s. o. , Seite 84
4 s. o. , Seite 84
5 W. Jaeschke, Vernunft in der Religion, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1986, S. 284
6 G. W. F. Hegel, Philosophie der Geschichte, Frankfurt a. Main, S. 275
7 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, Frankfurt am Main 1986, S. 79       >>>
8 V. Hösle, Hegels System, Hamburg, 1998, S. 199
9 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, Frankfurt a. Main, 1986, S. 44       >>>
10 s. o. , Seite 25                      
11 s. o. , Seite 86                      
12 s. o. , Seite 55                      
13 s. o. , Seite 55                      
14 s. o. , Seite 91                       >>>

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“Die erste Unmittelbarkeit muß sich als aufgehoben zeigen,
als gesetzt;
so muß man immer zum Anfang zurückkehren.”
 
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“… so kann … daran erinnert werden, daß der Mensch sich zu dieser abstrakten Allgemeinheit in seiner Gesinnung erheben soll,... >>>

Bei der Abstraktion aber ist die Sammlung des Geistes auf einen Punkt vorhanden, und es wird dadurch die Gewohnheit erworben, sich mit der Innerlichkeit zu beschäftigen.  >>>

Diese subjektive oder moralische Freiheit ist es vornehmlich, welche im europäischen Sinne Freiheit heißt.”
(Phänomenologie u..Enzyklopädie - Hegel: Moral - Moralität - Geist - Selbstbestimmung >>>)

“Die Krankheit unserer Zeit ist es, welche zu der Verzweiflung gekommen ist,
daß unser Erkennen nur ein subjektives und daß dieses Subjektive das Letzte sei.” 
   >>>

Man meint gewöhnlich,
das Absolute müsse weit jenseits liegen; aber es ist gerade das ganz Gegenwärtige,
das wir als Denkendes,
wenn auch ohne ausdrückliches Bewußtsein darum, immer mit uns führen und gebrauchen.   >>>

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