»Aber es ist, als seien die vertriebenen Intellektuellen nicht bloß des Bürgerrechts, sondern auch des Verstandes beraubt worden. Denken, die einzige Verhaltensweise, die ihnen anstünde, ist in Mißkredit geraten. Der »jüdisch-hegelianische Jargon«, der einst aus London bis zur deutschen Linken drang und schon damals in den Brustton von Gewerkschaftsfunktionären übertragen werden mußte, gilt jetzt als vollends überspannt. Aufatmend werfen sie die unbequeme Waffe weg und kehren zum Neuhumanismus, zu Goethes Persönlichkeit, zum wahren Deutschland und anderem Kulturgut zurück. Die internationale Solidarität habe versagt. Weil die Weltrevolution nicht eintrat, seien die theoretischen Gedanken nichts wert, nach denen sie als Rettung aus der Barbarei erschien. Jetzt, da es wirklich so gekommen ist, da Harmonie und Progressionsmöglichkeit der kapitalistischen Gesellschaft sich als die Illusion entlarven, die die Kritik der freien Marktwirtschaft seit je denunzierte, da trotz und wegen des technischen Fortschritts die Krise, wie vorausgesagt, permanent geworden ist und die Nachfahren der freien Unternehmer ihre Stellung nur durch Abschaffung der bürgerlichen Freiheit behaupten können, jetzt preisen die literarischen Gegner der totalitären Gesellschaft den Zustand, dem sie ihr Dasein verdankt, und verleugnen die Theorie, die sein Geheimnis aussprach, als es noch Zeit war. Daß die Emigranten der Welt, die den Faschismus aus sich erzeugt, gerade dort den Spiegel vorhalten, wo sie ihnen noch Asyl gewährt, kann niemand verlangen. Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen. Die englischen Gastfreunde von heute machen bessere Erfahrungen als Friedrich mit dem Lästermaul Voltaire. Mag das Loblied, das die Intellektuellen auf den Liberalismus anstimmen, oft schon zu spät kommen, da die Länder rascher in totalitäre sich umwandeln, als die Bücher Verleger finden, sie geben die Hoffnung nicht auf, daß irgendwo die Reformierung des westlichen Kapitalismus glimpflicher sich abspielt als die des deutschen und gut empfohlene Freunde doch noch eine Zukunft haben. Aber die totalitäre Ordnung ist nichts anderes als ihre Vorgängerin, die ihre Hemmungen verloren hat. Wie alte Leute zuweilen so böse werden, wie sie im Grunde immer waren, nimmt die Klassenherrschaft am Ende der Epoche die Form der Volksgemeinschaft an. Der Mythos der Interessenharmonie hat die Theorie zerstört; sie hat den liberalistischen Wirtschaftsprozeß als Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen vermittels freier Verträge dargestellt, die durch die Ungleichheit des Eigentums erzwungen werden. Die Vermittlung wird jetzt abgeschafft. Der Faschismus ist die Wahrheit der modernen Gesellschaft, die von der Theorie von Anfang an getroffen war. Er fixiert die extremen Unterschiede, die das Wertgesetz am Ende reproduzierte.«
Max Horkheimer: Die Juden und Europa, 1939
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