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                                                                                                                                manfred herok    2014


»Keine Angst vor dem Elfenbeinturm«

Ein »Spiegel«-Gespräch     -   1969

Spiegel: Herr Professor, vor zwei Wochen schien die
Welt noch in Ordnung ...
    Adorno: Mir nicht.
    Spiegel: ...Sie sagten, Ihr Verhältnis zu den Stu-
denten sei nicht beeinträchtigt. In Ihren Lehrveranstal-
tungen werde fruchtbar und sachlich ohne private
Trübung diskutiert. Nun haben Sie jedoch Ihre Vorle-
sung abgesagt.
    Adorno: Ich habe meine Vorlesung nicht für das
ganze Semester abgesagt, sondern nur bis auf weite-
res; in ein paar Wochen will ich sie wiederaufnehmen.
Das machen alle Kollegen bei derartigen Vorlesungs-
Sprengungen.
    Spiegel: Hat man Gewalt gegen Sie angewandt?
    Adorno: Nicht physische Gewalt, aber es wurde
ein solcher Lärm gemacht, daß die Vorlesung darin
untergegangen wäre. Das war offensichtlich geplant.
    Spiegel: Stößt Sie nur die Form ab, mit der die
Studenten heute gegen Sie vorgehen - Studenten, die
früher zu Ihnen gehalten haben, oder stören Sie auch
die politischen Ziele? Früher herrschte ja wohl Über-
einstimmung zwischen Ihnen und den Rebellen.
    Adorno: Das ist nicht die Dimension, auf der sich
die Differenzen abspielen. Ich habe neulich in einem
Fernsehinterview gesagt, ich hätte zwar ein theoreti-
sches Modell aufgestellt, hätte aber nicht ahnen kön-
nen, daß Leute es mit Molotow-Cocktails verwirkli-
chen wollen. Dieser Satz ist unzählige Male zitiert
worden, aber er bedarf sehr der Interpretation.
    Spiegel: Wie würden Sie ihn heute interpretieren?
    Adorno: Ich habe in meinen Schriften niemals ein
Modell für irgendwelche Handlungen und zu irgend-
welchen Aktionen gegeben. Ich bin ein theoretischer
Mensch, der das theoretische Denken als außerordent-
lich nah an seinen künstlerischen Intentionen empfin-
det. Ich habe mich nicht erst neuerdings von der Pra-
xis abgewandt, mein Denken stand seit jeher in einem
sehr indirekten Verhältnis zur Praxis. Es hat vielleicht
praktische Wirkungen dadurch gehabt, daß manche
Motive in das Bewußtsein übergegangen sind, aber
ich habe niemals irgend etwas gesagt, was unmittel-
bar auf praktische Aktionen abgezielt hätte. Seitdem
es in Berlin 1967 zum erstenmal zu einem Zirkus
gegen mich gekommen ist, haben bestimmte Gruppen
von Studenten immer wieder versucht, mich zur Soli-
darität zu zwingen, und praktische Aktionen von mir
verlangt. Das habe ich verweigert.
    Spiegel: Aber die kritische Theorie will die Ver-
hältnisse nicht so lassen, wie sie sind. Das haben die
SDS-Studenten von Ihnen gelernt. Sie, Herr Profes-
sor, verweigern sich jetzt jedoch der Praxis. Pflegen
Sie also nur eine »Liturgie der Kritik«, wie Dahren-
dorf behauptet hat?
    Adorno: Bei Dahrendorf waltet ein Oberton von
frisch-fröhlicher Überzeugung: Wenn man nur im
kleinen bessert, dann wird vielleicht auch alles besser
werden. Das kann ich als Voraussetzung nicht aner-
kennen. Bei der ApO aber begegne ich immer dem
Zwang, sich auszuliefern, mitzumachen, und dem
habe ich mich seit meiner frühesten Jugend wider-
setzt. Und es hat sich darin bei mir nichts geändert.
Ich versuche das, was ich erkenne und was ich denke,
auszusprechen. Aber ich kann es nicht danach einrich-
ten, was man damit anfangen kann und was daraus
wird.
    Spiegel: Wissenschaft im Elfenbeinturm also?
    Adorno: Ich habe vor dem Ausdruck Elfenbeinturm
gar keine Angst. Dieser Ausdruck hat einmal bessere
Tage gesehen, als Baudelaire ihn gebraucht hat. Je-
doch wenn Sie schon vom Elfenbeinturm sprechen:
Ich glaube, daß eine Theorie viel eher fähig ist, kraft
ihrer eigenen Objektivität praktisch zu wirken, als
wenn sie sich von vornherein der Praxis unterwirft.
Das Unglück im Verhältnis von Theorie und Praxis
besteht heute gerade darin, daß die Theorie einer
praktischen Vorzensur unterworfen wird. Man will
mir zum Beispiel verbieten, einfache Dinge auszu-
sprechen, die den illusionären Charakter vieler politi-
scher Zielsetzungen bestimmter Studenten zeigen.
    Spiegel: Diese Studenten haben aber offenbar
große Gefolgschaft.
    Adorno: Es gelingt immer wieder einer kleinen
Gruppe, Loyalitätszwänge auszuüben, denen sich die
große Mehrheit der linken Studenten nicht entziehen
mag. Aber das möchte ich noch einmal sagen: Sie
können sich dabei nicht auf Aktionsmodelle berufen,
die ich ihnen gegeben hätte, um mich dann später
davon zu distanzieren. Von solchen Modellen kann
keine Rede sein.
    Spiegel: Gleichwohl ist es doch so, daß die Studen-
ten sich manchmal sehr direkt, manchmal indirekt, auf
Ihre Gesellschaftskritik berufen. Ohne Ihre Theorien
wäre die studentische Protestbewegung vielleicht gar
nicht entstanden.
    Adorno: Das möchte ich nicht leugnen; trotzdem
ist dieser Zusammenhang für mich schwer zu überse-
hen. Ich würde schon glauben, daß etwa die Kritik
gegen die Manipulation der öffentlichen Meinung, die
ich auch in ihren demonstrativen Formen für völlig le-
gitim halte, ohne das Kapitel »Kulturindustrie« in der
»Dialektik der Aufklärung« von Horkheimer und mir
nicht möglich gewesen wäre. Aber ich glaube, man
stellt sich oft den Zusammenhang zwischen Theorie
und Praxis zu kurzschlüssig vor. Wenn man 20 Jahre
mit dieser Intensität gelehrt und publiziert hat wie ich,
geht das schon in das allgemeine Bewußtsein über.
    Spiegel: Und damit wohl auch in die Praxis?
    Adorno: Unter Umständen - das ist aber nicht not-
wendig so. In unseren Arbeiten wird der Wert von so-
genannten Einzelaktionen durch die Betonung der ge-
sellschaftlichen Totalität äußerst eingeschränkt.
    Spiegel: Wie wollen Sie aber die gesellschaftliche
Totalität ohne Einzelaktionen ändern?
    Adorno: Da bin ich überfragt. Auf die Frage 'Was
soll man tun' kann ich wirklich meist nur antworten
'Ich weiß es nicht'. Ich kann nur versuchen, rück-
sichtslos zu analysieren, was ist. Dabei wird mir vor-
geworfen: Wenn du schon Kritik übst, dann bist du
auch verpflichtet zu sagen, wie man's besser machen
soll. Und das allerdings halte ich für ein bürgerliches
Vorurteil. Es hat sich unzählige Male in der Ge-
schichte ereignet, daß gerade Werke, die rein theoreti-
sche Absichten verfolgen, das Bewußtsein und damit
auch die gesellschaftliche Realität verändert haben.
    Spiegel: Sie haben doch in Ihren Arbeiten die kriti-
sche Theorie von beliebigen anderen Theorien abge-
setzt. Sie soll nicht bloß empirisch die Wirklichkeit
beschreiben, sondern gerade auch die richtige Einrich-
tung der Gesellschaft mit bedenken.
    Adorno: Hier ging es mir um die Kritik des Positi-
vismus. Beachten Sie dabei, daß ich gesagt habe, mit
bedenken. In diesem Satz steckt doch nicht, daß ich
mir anmaßen würde zu sagen, wie man nun handelt.
    Spiegel: Aber Sie haben einmal gesagt, die kriti-
sche Theorie solle »den Stein aufheben, unter dem das
Unwesen brütet«. Wenn die Studenten nun mit die-
sem Stein werfen - ist das so unverständlich?
    Adorno: Unverständlich ist es sicher nicht. Ich
glaube, daß der Aktionismus wesentlich auf Ver-
zweiflung zurückzuführen ist, weil die Menschen füh-
len, wie wenig Macht sie tatsächlich haben, die Ge-
sellschaft zu verändern. Aber ich bin ebenso über-
zeugt davon, daß diese Einzelaktionen zum Scheitern
verurteilt sind; das hat sich auch bei der Mai-Revolte
in Frankreich gezeigt.
    Spiegel: Wenn Einzelaktionen also sinnlos sind,
bleibt dann nicht nur »kritische Ohnmacht«, wie sie
der SDS Ihnen vorgeworfen hat?
    Adorno: Es gibt einen Satz von Grabbe, der lautet:
»Denn nichts als nur Verzweiflung kann uns retten.«
Das ist provokativ, aber gar nicht dumm. - Ich kann
darin keinen Vorwurf sehen, daß man in der Welt, in
der wir leben, verzweifelt, pessimistisch, negativ sei.
Eher sind doch die Menschen beschränkt, die krampf-
haft die objektive Verzweiflung durch den Hurra-Op-
timismus der unmittelbaren Aktion überschreien, um
es sich psychologisch leichter zu machen.
    Spiegel: Ihr Kollege Jürgen Habermas, auch ein
Verfechter kritischer Theorie, hat gerade jetzt in
einem Aufsatz zugestanden, daß die Studenten »phan-
tasiereichen Provokationismus« entfaltet haben und
wirklich etwas zu ändern vermochten.
    Adorno: Darin würde ich Habermas zustimmen.
Ich glaube, daß die Hochschulreform, von der wir im
übrigen noch nicht wissen, wie sie ausgeht, ohne die
Studenten überhaupt nicht in Gang gekommen wäre.
Ich glaube, daß die allgemeine Aufmerksamkeit auf
die Verdummungsprozesse, die in der gegenwärtigen
Gesellschaft vorwalten, ohne die Studentenbewegung
sich niemals auskristallisiert hätte. Und ich glaube
weiter - um etwas ganz Konkretes zu nennen -, daß
nur durch die von Berliner Studenten geführte Unter-
suchung der Ermordung Ohnesorgs diese ganze grau-
enhafte Geschichte überhaupt ins öffentliche Bewußt-
sein gedrungen ist. Ich möchte damit sagen, daß ich
mich keineswegs praktischen Konsequenzen ver-
schließe, wenn sie mir selber durchsichtig sind.
    Spiegel: Und wann waren sie Ihnen durchsichtig?
    Adorno: Ich habe an Kundgebungen gegen die
Notstandsgesetze teilgenommen, und ich habe im Be-
reich der Strafrechtsreform getan, was ich tun konnte.
Aber es ist doch ein Unterschied ums Ganze, ob ich
so etwas tue oder mich an einer nun wirklich schon
halb wahnhaften Praxis beteilige und Steine gegen
Universitätsinstitute werfe.
    Spiegel: Woran würden Sie messen, ob eine Akti-
on sinnvoll ist oder nicht?

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adorno2

Theodor Adorno

Quelle:wissen.spiegel.de

Es muss immer “was los” sein:

“ Die Bildwitze, welche die
Magazine füllen, sind großenteils ohne Pointe, sinnleer.
Sie bestehen in nichts anderem als in der Herausforderung des Auges zum Wettkampf mit der Situation.
Man soll, durch ungezählte Präzedenzfälle ge-
schult, rascher sehn, was »los ist«, als die Bedeutungsmomente der Situation sich entfalten. Was von
solchen Bildern vorgemacht,...”   >>>

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Adorno        Adorno 2

Dialektik der Aufklärung

Es gibt kein richtiges Leben im falschen

Thesen gegen den Okkultismus

Adorno: Elfenbeinturm

Adorno: was »los ist«

Das Ganze ist das Unwahre

"Arbeit macht frei"?

Dumm

Adorno:Kulturindustrie

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