»Keine Angst vor dem Elfenbeinturm«
Ein »Spiegel«-Gespräch - 1969
Spiegel: Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung ... Adorno: Mir nicht. Spiegel: ...Sie sagten, Ihr Verhältnis zu den Stu- denten sei nicht beeinträchtigt. In Ihren Lehrveranstal- tungen werde fruchtbar und sachlich ohne private Trübung diskutiert. Nun haben Sie jedoch Ihre Vorle- sung abgesagt. Adorno: Ich habe meine Vorlesung nicht für das ganze Semester abgesagt, sondern nur bis auf weite- res; in ein paar Wochen will ich sie wiederaufnehmen. Das machen alle Kollegen bei derartigen Vorlesungs- Sprengungen. Spiegel: Hat man Gewalt gegen Sie angewandt? Adorno: Nicht physische Gewalt, aber es wurde ein solcher Lärm gemacht, daß die Vorlesung darin untergegangen wäre. Das war offensichtlich geplant. Spiegel: Stößt Sie nur die Form ab, mit der die Studenten heute gegen Sie vorgehen - Studenten, die früher zu Ihnen gehalten haben, oder stören Sie auch die politischen Ziele? Früher herrschte ja wohl Über- einstimmung zwischen Ihnen und den Rebellen. Adorno: Das ist nicht die Dimension, auf der sich die Differenzen abspielen. Ich habe neulich in einem Fernsehinterview gesagt, ich hätte zwar ein theoreti- sches Modell aufgestellt, hätte aber nicht ahnen kön- nen, daß Leute es mit Molotow-Cocktails verwirkli- chen wollen. Dieser Satz ist unzählige Male zitiert worden, aber er bedarf sehr der Interpretation. Spiegel: Wie würden Sie ihn heute interpretieren? Adorno: Ich habe in meinen Schriften niemals ein Modell für irgendwelche Handlungen und zu irgend- welchen Aktionen gegeben. Ich bin ein theoretischer Mensch, der das theoretische Denken als außerordent- lich nah an seinen künstlerischen Intentionen empfin- det. Ich habe mich nicht erst neuerdings von der Pra- xis abgewandt, mein Denken stand seit jeher in einem sehr indirekten Verhältnis zur Praxis. Es hat vielleicht praktische Wirkungen dadurch gehabt, daß manche Motive in das Bewußtsein übergegangen sind, aber ich habe niemals irgend etwas gesagt, was unmittel- bar auf praktische Aktionen abgezielt hätte. Seitdem es in Berlin 1967 zum erstenmal zu einem Zirkus gegen mich gekommen ist, haben bestimmte Gruppen von Studenten immer wieder versucht, mich zur Soli- darität zu zwingen, und praktische Aktionen von mir verlangt. Das habe ich verweigert. Spiegel: Aber die kritische Theorie will die Ver- hältnisse nicht so lassen, wie sie sind. Das haben die SDS-Studenten von Ihnen gelernt. Sie, Herr Profes- sor, verweigern sich jetzt jedoch der Praxis. Pflegen Sie also nur eine »Liturgie der Kritik«, wie Dahren- dorf behauptet hat? Adorno: Bei Dahrendorf waltet ein Oberton von frisch-fröhlicher Überzeugung: Wenn man nur im kleinen bessert, dann wird vielleicht auch alles besser werden. Das kann ich als Voraussetzung nicht aner- kennen. Bei der ApO aber begegne ich immer dem Zwang, sich auszuliefern, mitzumachen, und dem habe ich mich seit meiner frühesten Jugend wider- setzt. Und es hat sich darin bei mir nichts geändert. Ich versuche das, was ich erkenne und was ich denke, auszusprechen. Aber ich kann es nicht danach einrich- ten, was man damit anfangen kann und was daraus wird. Spiegel: Wissenschaft im Elfenbeinturm also? Adorno: Ich habe vor dem Ausdruck Elfenbeinturm gar keine Angst. Dieser Ausdruck hat einmal bessere Tage gesehen, als Baudelaire ihn gebraucht hat. Je- doch wenn Sie schon vom Elfenbeinturm sprechen: Ich glaube, daß eine Theorie viel eher fähig ist, kraft ihrer eigenen Objektivität praktisch zu wirken, als wenn sie sich von vornherein der Praxis unterwirft. Das Unglück im Verhältnis von Theorie und Praxis besteht heute gerade darin, daß die Theorie einer praktischen Vorzensur unterworfen wird. Man will mir zum Beispiel verbieten, einfache Dinge auszu- sprechen, die den illusionären Charakter vieler politi- scher Zielsetzungen bestimmter Studenten zeigen. Spiegel: Diese Studenten haben aber offenbar große Gefolgschaft. Adorno: Es gelingt immer wieder einer kleinen Gruppe, Loyalitätszwänge auszuüben, denen sich die große Mehrheit der linken Studenten nicht entziehen mag. Aber das möchte ich noch einmal sagen: Sie können sich dabei nicht auf Aktionsmodelle berufen, die ich ihnen gegeben hätte, um mich dann später davon zu distanzieren. Von solchen Modellen kann keine Rede sein. Spiegel: Gleichwohl ist es doch so, daß die Studen- ten sich manchmal sehr direkt, manchmal indirekt, auf Ihre Gesellschaftskritik berufen. Ohne Ihre Theorien wäre die studentische Protestbewegung vielleicht gar nicht entstanden. Adorno: Das möchte ich nicht leugnen; trotzdem ist dieser Zusammenhang für mich schwer zu überse- hen. Ich würde schon glauben, daß etwa die Kritik gegen die Manipulation der öffentlichen Meinung, die ich auch in ihren demonstrativen Formen für völlig le- gitim halte, ohne das Kapitel »Kulturindustrie« in der »Dialektik der Aufklärung« von Horkheimer und mir nicht möglich gewesen wäre. Aber ich glaube, man stellt sich oft den Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis zu kurzschlüssig vor. Wenn man 20 Jahre mit dieser Intensität gelehrt und publiziert hat wie ich, geht das schon in das allgemeine Bewußtsein über. Spiegel: Und damit wohl auch in die Praxis? Adorno: Unter Umständen - das ist aber nicht not- wendig so. In unseren Arbeiten wird der Wert von so- genannten Einzelaktionen durch die Betonung der ge- sellschaftlichen Totalität äußerst eingeschränkt. Spiegel: Wie wollen Sie aber die gesellschaftliche Totalität ohne Einzelaktionen ändern? Adorno: Da bin ich überfragt. Auf die Frage 'Was soll man tun' kann ich wirklich meist nur antworten 'Ich weiß es nicht'. Ich kann nur versuchen, rück- sichtslos zu analysieren, was ist. Dabei wird mir vor- geworfen: Wenn du schon Kritik übst, dann bist du auch verpflichtet zu sagen, wie man's besser machen soll. Und das allerdings halte ich für ein bürgerliches Vorurteil. Es hat sich unzählige Male in der Ge- schichte ereignet, daß gerade Werke, die rein theoreti- sche Absichten verfolgen, das Bewußtsein und damit auch die gesellschaftliche Realität verändert haben. Spiegel: Sie haben doch in Ihren Arbeiten die kriti- sche Theorie von beliebigen anderen Theorien abge- setzt. Sie soll nicht bloß empirisch die Wirklichkeit beschreiben, sondern gerade auch die richtige Einrich- tung der Gesellschaft mit bedenken. Adorno: Hier ging es mir um die Kritik des Positi- vismus. Beachten Sie dabei, daß ich gesagt habe, mit bedenken. In diesem Satz steckt doch nicht, daß ich mir anmaßen würde zu sagen, wie man nun handelt. Spiegel: Aber Sie haben einmal gesagt, die kriti- sche Theorie solle »den Stein aufheben, unter dem das Unwesen brütet«. Wenn die Studenten nun mit die- sem Stein werfen - ist das so unverständlich? Adorno: Unverständlich ist es sicher nicht. Ich glaube, daß der Aktionismus wesentlich auf Ver- zweiflung zurückzuführen ist, weil die Menschen füh- len, wie wenig Macht sie tatsächlich haben, die Ge- sellschaft zu verändern. Aber ich bin ebenso über- zeugt davon, daß diese Einzelaktionen zum Scheitern verurteilt sind; das hat sich auch bei der Mai-Revolte in Frankreich gezeigt. Spiegel: Wenn Einzelaktionen also sinnlos sind, bleibt dann nicht nur »kritische Ohnmacht«, wie sie der SDS Ihnen vorgeworfen hat? Adorno: Es gibt einen Satz von Grabbe, der lautet: »Denn nichts als nur Verzweiflung kann uns retten.« Das ist provokativ, aber gar nicht dumm. - Ich kann darin keinen Vorwurf sehen, daß man in der Welt, in der wir leben, verzweifelt, pessimistisch, negativ sei. Eher sind doch die Menschen beschränkt, die krampf- haft die objektive Verzweiflung durch den Hurra-Op- timismus der unmittelbaren Aktion überschreien, um es sich psychologisch leichter zu machen. Spiegel: Ihr Kollege Jürgen Habermas, auch ein Verfechter kritischer Theorie, hat gerade jetzt in einem Aufsatz zugestanden, daß die Studenten »phan- tasiereichen Provokationismus« entfaltet haben und wirklich etwas zu ändern vermochten. Adorno: Darin würde ich Habermas zustimmen. Ich glaube, daß die Hochschulreform, von der wir im übrigen noch nicht wissen, wie sie ausgeht, ohne die Studenten überhaupt nicht in Gang gekommen wäre. Ich glaube, daß die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Verdummungsprozesse, die in der gegenwärtigen Gesellschaft vorwalten, ohne die Studentenbewegung sich niemals auskristallisiert hätte. Und ich glaube weiter - um etwas ganz Konkretes zu nennen -, daß nur durch die von Berliner Studenten geführte Unter- suchung der Ermordung Ohnesorgs diese ganze grau- enhafte Geschichte überhaupt ins öffentliche Bewußt- sein gedrungen ist. Ich möchte damit sagen, daß ich mich keineswegs praktischen Konsequenzen ver- schließe, wenn sie mir selber durchsichtig sind. Spiegel: Und wann waren sie Ihnen durchsichtig? Adorno: Ich habe an Kundgebungen gegen die Notstandsgesetze teilgenommen, und ich habe im Be- reich der Strafrechtsreform getan, was ich tun konnte. Aber es ist doch ein Unterschied ums Ganze, ob ich so etwas tue oder mich an einer nun wirklich schon halb wahnhaften Praxis beteilige und Steine gegen Universitätsinstitute werfe. Spiegel: Woran würden Sie messen, ob eine Akti- on sinnvoll ist oder nicht?
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