Spiegel: Woran würden Sie messen, ob eine Akti- on sinnvoll ist oder nicht? Adorno: Einmal hängt die Entscheidung weitge- hend von der konkreten Situation ab. Zum anderen habe ich allerdings gegen jede Anwendung von Ge- walt die schwersten Vorbehalte. Ich müßte mein gan- zes Leben verleugnen - die Erfahrungen unter Hitler und was ich am Stalinismus beobachtet habe -, wenn ich dem ewigen Zirkel der Anwendung von Gewalt gegen Gewalt mich nicht verweigern würde. Ich kann mir eine sinnvolle verändernde Praxis nur als gewalt- lose Praxis vorstellen. Spiegel: Auch unter einer faschistischen Diktatur? Adorno: Sicher wird es Situationen geben, in denen das anders aussieht. Auf einen wirklichen Fa- schismus kann man nur mit Gewalt reagieren. Da bin ich alles andere als starr. Wer jedoch nach der Ermor- dung ungezählter Millionen von Menschen in den to- talitären Staaten heute noch Gewalt predigt, dem ver- sage ich die Gefolgschaft. Das ist die entscheidende Schwelle. Spiegel: Ist diese Schwelle überschritten worden, als Studenten versuchten, durch Sitzstreiks die Aus- lieferung von Springer-Zeitungen zu verhindern? Adorno: Diesen Sitzstreik halte ich für legitim. Spiegel: Wurde diese Schwelle überschritten, als Studenten Ihre Vorlesung durch Lärm und Sex-Einla- gen störten? Adorno: Gerade bei mir, der sich stets gegen jede Art erotischer Repression und gegen Sexualtabus ge- wandt hat! Mich zu verhöhnen und drei als Hippies zurechtgemachte Mädchen auf mich loszuhetzen! Ich fand das widerlich. Der Heiterkeitseffekt, den man damit erzielt, war ja doch im Grunde die Reaktion des Spießbürgers, der Hihi! kichert, wenn er ein Mädchen mit nackten Brüsten sieht. Natürlich war dieser Schwachsinn kalkuliert. Spiegel: Sollte der ungewöhnliche Akt vielleicht Ihre Theorie verwirren? Adorno: Mir scheint, daß es bei diesen Aktionen gegen mich weniger um den Inhalt meiner Vorlesung geht; wichtiger ist dem extremen Flügel wohl die Pu- blizität. Er leidet unter der Angst, in Vergessenheit zu geraten. So wird er zum Sklaven seiner eigenen Publi- zität. Eine Vorlesung wie die meine, die von etwa 1000 Leuten besucht wird, ist selbstverständlich ein herrliches Forum für Propaganda der Tat. Spiegel: Läßt sich nicht auch diese Tat als Aktion der Verzweiflung deuten? Vielleicht fühlten sich die Studenten im Stich gelassen von einer Theorie, der sie zumindest zutrauten, sie ließe sich in gesellschaftsän- dernde Praxis umsetzen? Adorno: Die Studenten haben gar nicht versucht, mit mir zu diskutieren. Was mir den Umgang mit den Studenten heute so erschwert, ist der Vorrang der Taktik. Meine Freunde und ich haben das Gefühl, daß wir nur noch Objekte in genau kalkulierten Plänen sind. Der Gedanke an das Recht von Minderheiten, der ja schließlich für die Freiheit konstitutiv ist, spielt überhaupt keine Rolle mehr. Gegen die Objektivität der Sache macht man sich blind. Spiegel: Und angesichts solcher Nötigungen ver- zichten Sie auf eine Verteidigungs-Strategie? Adorno: Mein Interesse wendet sich zunehmend der philosophischen Theorie zu. Wenn ich praktische Ratschläge gäbe, wie es bis zu einem gewissen Grad Herbert Marcuse getan hat, ginge das an meiner Pro- duktivität ab. Man kann gegen die Arbeitsteilung sehr viel sagen, aber bereits Marx, der sie in seiner Jugend aufs heftigste angegriffen hat, erklärte bekanntlich später, daß es ohne Arbeitsteilung auch nicht ginge. Spiegel: Sie haben sich also für den theoretischen Teil entschieden, die anderen können den praktischen erledigen; sie sind bereits dabei. Wäre es nicht besser, wenn die Theorie gleichzeitig die Praxis reflektieren würde? Und damit auch die gegenwärtigen Aktionen? Adorno: Es gibt Situationen, in denen ich das täte. Im Augenblick allerdings scheint mir viel wichtiger, erst einmal die Anatomie des Aktionismus zu beden- ken. Spiegel: Also wieder nur Theorie? Adorno: Ich räume der Theorie zur Zeit höheren Rang ein. Ich habe - vor allem in der »Negativen Dialektik« - diese Dinge längst angefaßt, ehe es zu diesem Konflikt kam. Spiegel: In der »Negativen Dialektik« finden wir die resignierte Feststellung: »Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Au- genblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.« Wird eine solche Philosophie - jenseits aller Konflikte - nicht zur »Narretei«? Eine Frage, die Sie selbst sich gestellt haben. Adorno: Ich glaube nach wie vor, daß man gerade unter dem allgemeinen Praxiszwang einer funktiona- len pragmatisierten Welt an der Theorie festhalten sollte. Und ich lasse mich auch durch die jüngsten Er- eignisse nicht von dem abbringen, was ich geschrie- ben habe. Spiegel: Bisher, so formulierte einmal Ihr Freund Habermas, hat sich Ihre Dialektik an den »schwärze- sten Stellen« der Resignation, dem »destruktiven Sog des Todestriebes«, überlassen. Adorno: Ich würde eher sagen, daß der krampfhaf- te Hang zum Positiven aus dem Todestrieb kommt. Spiegel: Dann wäre es die Tugend der Philosophie, dem Negativen ins Auge zu sehen, aber nicht, es zu wenden? Adorno: Die Philosophie kann von sich aus keine unmittelbaren Maßnahmen oder Änderungen empfeh- len. Sie ändert gerade, indem sie Theorie bleibt. Ich meine, man sollte doch einmal die Frage stellen, ob es nicht auch eine Form des Sich-Widersetzens ist, wenn ein Mensch die Dinge denkt und schreibt, wie ich sie schreibe. Ist denn nicht Theorie auch eine genuine Ge- stalt der Praxis? Spiegel: Gibt es nicht Situationen, wie zum Bei- spiel in Griechenland, in denen Sie, über kritische Re- flexion hinaus, Aktionen befürworten würden? Adorno: In Griechenland würde ich selbstverständ- lich jede Art von Aktion billigen. Dort herrscht eine total andere Situation. Doch aus dem sicheren Hort zu raten, macht ihr mal Revolution, hat etwas so Läppi- sches, daß man sich genieren muß. Spiegel: Sie sehen also die sinnvollste und notwen-digste Form Ihrer Tätigkeit in der Bundesrepublik nach wie vor darin, die Analyse der Gesellschaftsver- hältnisse voranzutreiben? Adorno: Ja, und mich in ganz bestimmte Einzel- phänomene zu versenken. Ich geniere mich gar nicht, in aller Öffentlichkeit zu sagen, daß ich an einem gro- ßen ästhetischen Buch arbeite. Spiegel: Herr Professor Adorno, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
1969
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