“...Ebenso horchten die Griechen auf das Gemurmel der Quellen und fragten, was das zu bedeuten habe; die Bedeutung aber ist nicht die objektive Sinnigkeit der Quelle, sondern die subjektive des Subjekts selbst, welches dann weiter die Najade zur Muse erhebt. Die Najaden oder Quellen sind der äußerliche Anfang der Musen. Doch der Musen unsterbliche Gesänge sind nicht das, was man hört, wenn man die Quellen murmeln hört, sondern sie sind die Produktionen des sinnig horchenden Geistes, der in seinem Hinauslauschen in sich selbst produziert. Die Auslegung und Erklärung der Natur und der natürlichen Veränderungen, das Nachweisen des Sinnes und der Bedeutung darin, das ist das Tun des subjektiven Geistes, was die Griechen mit dem Namen μαντεία [manteia - Sehergabe, Weissagung, Orakelspruch. Orakelstätte] belegten. Wir können diese überhaupt als die Art der Bezüglichkeit des Menschen auf die Natur fassen. Zur μαντεία [manteia] gehört der Stoff und der Erklärer, welcher das Sinnvolle herausbringt. Platon spricht davon in Beziehung auf die Träume und den Wahnsinn, in den der Mensch in der Krankheit verfällt; es bedürfe eines Auslegers, μάντις [mantis], um diese Träume und diesen Wahnsinn zu erklären. Die Natur hat dem Griechen auf seine Fragen geantwortet: das ist in dem Sinne wahr, daß der Mensch aus seinem Geiste die Fragen der Natur beantwortet hat. Die Anschauung wird dadurch rein poetisch, denn der Geist macht darin den Sinn, den das natürliche Gebilde ausdrückt. Überall verlangen die Griechen nach einer Auslegung und Deutung des Natürlichen. Homer erzählt im letzten Buche der daß, als die Griechen um den Achill ganz in Trauer versenkt waren, ein großes Tosen über das Meer her entstanden sei; die Griechen seien schon im Begriff gewesen, auseinander zu fliehen, da stand der erfahrene Nestor auf und erklärte ihnen diese Erscheinung. Die Thetis, sagte er, komme mit ihren Nymphen, um den Tod ihres Sohnes zu beklagen. Als eine Pest im Lager der Griechen ausbrach, gab der Priester Kalchas ihnen die Auslegung: Apoll sei erzürnt, daß man seinem Priester Chryses die Tochter für das Lösegeld nicht zurückgegeben habe. Das Orakel hatte ursprünglich auch ganz diese Form der Auslegung. Das älteste Orakel war zu Dodona (in der Gegend des heutigen Janina). Herodot sagt, die ersten Priesterinnen des Tempels daselbst seien aus Ägypten gewesen, und doch wird dieser Tempel als ein altgriechischer angegeben. Das Gesäusel der Blätter von den heiligen Eichen war dort die Weissagung. Es waren daselbst auch metallene Becken aufgehängt. Die Töne der zusammenschlagenden Becken waren aber ganz unbestimmt und hatten keinen objektiven Sinn, sondern der Sinn, die Bedeutung kam erst durch die auffassenden Menschen hinein. So gaben auch die delphischen Priesterinnen, bewußtlos, besinnungslos, im Taumel der Begeisterung (μανία [mania]) unvernehmliche Töne von sich, und erst der μάντις [mantis] legte eine bestimmte Bedeutung hinein. In der Höhle des Trophonios hörte man das Geräusch von unterirdischen Gewässern, es stellten sich Gesichte dar; dies Unbestimmte gewann aber auch erst eine Bedeutung durch den auslegenden auffassenden Geist. Es ist noch zu bemerken, daß die Anregungen des Geistes zunächst äußerliche natürliche Regsamkeiten sind, dann aber ebenso innere Veränderungen, die im Menschen selbst vorgehen, wie die Träume oder der Wahnsinn der delphischen Priesterin, welche durch den μάντις erst sinnvoll ausgelegt werden. Im Anfang der braust Achill gegen den Agamemnon auf und ist im Begriff, sein Schwert zu ziehen, aber schnell hemmt er die Bewegung seines Armes und faßt sich im Zorn, indem er sein Verhältnis zu Agamemnon bedenkt. Der Dichter legt dieses aus, indem er sagt: das sei die Pallas Athene (die Weisheit, die Besinnung ) gewesen, die ihn aufgehalten habe. Als Odysseus bei den Phäaken seinen Diskus weiter als die anderen geworfen hatte und einer der Phäaken sich ihm freundlich gesinnt gezeigt, so erkennt der Dichter in ihm die Pallas Athene. Diese Bedeutung ist so das Innere, der Sinn, das Wahrhafte, was gewußt wird, und die Dichter sind auf diese Weise die Lehrer der Griechen gewesen, vor allem aber war es Homer. Die μαντεία [manteia] überhaupt ist Poesie, nicht willkürliches Phantasieren, sondern eine Phantasie, die das Geistige in das Natürliche hineinlegt und sinnvolles Wissen ist. Der griechische Geist ist daher im ganzen ohne Aberglauben, indem er das Sinnliche in Sinniges verwandelt, so daß die Bestimmungen aus dem Geiste herkommen; obgleich der Aberglaube von einer andern Seite wieder hineinkommt, wie bemerkt werden wird, wenn Bestimmungen für das Dafürhalten und Handeln aus einer andern Quelle als aus dem Geistigen geschöpft werden.
Hegel g.w.f..: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte / Zweiter Teil. Die griechische Welt / Zweiter Abschnitt: Die Gestaltungen der schönen Individualität/ Erster Abschnitt: Die Elemente des griechischen Geistes Kontext>>>
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