Im Ödipus auf Kolonos sagt Ödipus zu seinem Sohne: die Eumenide des Vaters wird dich verfolgen. Eros, die Liebe, ist so nicht nur das Objektive, der Gott, sondern auch als Macht die subjektive Empfindung des Menschen. Anakreon beschreibt einen Kampf mit Eros. "Ich auch", sagt er, "will jetzt lieben; schon längst gebot mir's Eros; doch ich wollte nicht folgen. Da griff mich Eros an. Bewaffnet mit Harnisch und Lanze widerstand ich. Eros verschoß sich, doch dann schwang er sich selbst mir ins Herz. Was hilft da", so schließt er, "Pfeil und Bogen? Der Kampf ist mitten in mir." In dieser Anerkennung und Verehrung ist also das Subjekt schlechthin bei sich; die Götter sind sein eigenes Pathos. Das Wissen von den Göttern ist kein Wissen nur von ihnen als Abstraktionen jenseits der Wirklichkeit, sondern es ist ein Wissen zugleich von der konkreten Subjektivität des Menschen selbst als einem Wesentlichen, denn die Götter sind ebenso in ihm. Da ist nicht dieses negative Verhältnis, wo das Verhältnis des Subjekts, wenn es das höchste ist, nur diese Aufopferung, Negation, seines Bewußtseins ist. Die Mächte sind den Menschen freundlich und hold, sie wohnen in ihrer eigenen Brust; der Mensch verwirklicht sie und weiß ihre Wirklichkeit zugleich als die seinige. Der Hauch der Freiheit durchweht diese ganze Welt und macht die Grundbestimmung für diese Gesinnung aus.
Es fehlt aber noch das Bewußtsein der unendlichen Subjektivität des Menschen, daß die sittlichen Verhältnisse und das absolute Recht dem Menschen als solchem zukommen, daß er dadurch, daß er Selbstbewußtsein ist, in dieser formellen Unendlichkeit das Recht wie die Pflicht der Gattung hat. Freiheit, Sittlichkeit ist das Substantielle des Menschen, und dieses als das Substantielle zu wissen und seine Substantialität darein zu setzen, ist der Wert und die Würde des Menschen. ...
Eine andere Kollision ist z. B. im Ödipus dargestellt. Er hat seinen Vater erschlagen, ist scheinbar schuldig, aber schuldig, weil seine sittliche Macht einseitig ist. Er fällt nämlich bewußtlos in diese gräßliche Tat. Er ist aber der, der das Rätsel der Sphinx gelöst hat: dieser hohe Wissende. So stellt sich als Nemesis ein Gleichgewicht her: der so wissend war, steht in der Macht des Bewußtlosen, so daß er in tiefe Schuld fällt, als er hoch stand. Hier ist also der Gegensatz der beiden Mächte der des Bewußtseins und der Bewußtlosigkeit.
Um noch eine Kollision anzuführen: Hippolyt wird unglücklich, weil er nur der Diana Verehrung weiht und die Liebe verschmäht, die sich nun an ihm rächt. Es ist eine Albernheit in der französischen Bearbeitung des Racine, dem Hippolyt eine andere Liebschaft zu geben; da ist es dann keine Strafe der Liebe als Pathos, was er leidet, sondern ein bloßes Unglück, daß er in ein Mädchen verliebt ist und einem andern Weibe kein Gehör gibt, die zwar Gemahlin seines Vaters ist, welches sittliche Hindernis aber durch seine Liebe zur Aricia verdunkelt ist. Die Ursache seines Unterganges ist daher Verletzung oder Vernachlässigung einer allgemeinen Macht als solcher, nichts Sittliches, sondern eine Besonderheit und Zufälligkeit.
Der Schluß der Tragödie ist die Versöhnung, die vernünftige Notwendigkeit, die Notwendigkeit, die hier anfängt, sich zu vermitteln; es ist die Gerechtigkeit, die auf solche Weise befriedigt wird mit dem Spruch: es ist nichts, was nicht Zeus ist, nämlich die ewige Gerechtigkeit. Hier ist eine rührende Notwendigkeit, die aber vollkommen sittlich ist; das erlittene Unglück ist vollkommen klar; hier ist nichts Blindes, Bewußtloses. Zu solcher Klarheit der Einsicht und der künstlerischen Darstellung ist Griechenland auf seiner höchsten Bildungsstufe gekommen. Doch bleibt hier ein Unaufgelöstes, indem das Höhere nicht als die unendliche geistige Macht hervortritt; es bleibt unbefriedigte Trauer darin, indem ein Individuum untergeht.
Die höhere Versöhnung wäre, daß im Subjekt die Gesinnung der Einseitigkeit aufgehoben würde - das Bewußtsein seines Unrechts - und daß es sich in seinem Gemüt seines Unrechts abtut. Diese seine Schuld, Einseitigkeit zu erkennen und sich derselben abzutun, ist aber nicht in dieser Sphäre einheimisch. Dieses Höhere macht überflüssig die äußerliche Bestrafung, den natürlichen Tod. Anfänge, Anklänge dieser Versöhnung treten allerdings auch ein, aber diese innere Umkehrung erscheint doch mehr als äußerliche Reinigung. Ein Sohn des Minos war in Athen erschlagen worden, deswegen bedurfte es der Reinigung: diese Tat ist für ungeschehen erklärt worden. Es ist der Geist, der das Geschehene ungeschehen machen will.
Orest in den Eumeniden wird losgesprochen vom Areopag. Hier ist einerseits der höchste Frevel gegen die Pietät, auf der anderen Seite hat er seinem Vater Recht verschafft. Denn der war nicht nur Oberhaupt der Familie, sondern auch des Staats. In einer Handlung hat er gefrevelt und ebenso vollkommene, wesentliche Notwendigkeit ausgeübt. Lossprechen heißt eben dies: etwas ungeschehen machen. Ödipus Kolonos spielt an die Versöhnung und näher an die christliche Vorstellung der Versöhnung an: Ödipus wird von den Göttern zu Gnaden angenommen, die Götter berufen ihn zu sich. Heutzutage fordern wir mehr, weil die Vorstellung der Versöhnung bei uns höher ist: das Bewußtsein, daß im Inneren diese Umkehrung geschehen kann, wodurch das Geschehene ungeschehen gemacht wird. Der Mensch, der sich bekehrt, seine Einseitigkeit aufgibt, hat sie ausgerottet in sich, seinem Willen, wo die bleibende Stätte, der Platz der Tat wäre, d. i. in ihrer Wurzel die Tat vernichtet. Es ist unserem Gefühl entsprechender, daß die Tragödien Ausgänge haben, die versöhnend sind.
G.W.F. HEGEL: Vorlesungen über die Philosophie der Religion >>>
|