Die Weisheit Gottes hat in Christo menschliche Natur angenommen
Wir erkennen es zwar ganz klar, daß Gott sich den Menschen unmittelbar mitteilen kann, denn ohne körperliche Hilfsmittel teilt er unserm Geiste sein Wesen mit; wollte aber ein Mensch bloß mit dem Geiste irgendwie etwas begreifen, das in den tiefsten Grundlagen unsrer Erkenntnis nicht enthalten ist und nicht aus ihnen abgeleitet werden kann, so müßte sein Geist notwendig weit vorzüglicher sein und den menschlichen Geist weit mehr überragen. Ich glaube daher nicht, daß irgend jemand eine solche Vollkommenheit vor den andern erreicht hat, ausgenommen Christus, dem der Heilsplan Gottes ohne Worte und Gesichte, ganz unmittelbar offenbart worden ist, so daß Gott durch Christi Geist sich den Aposteln offenbart hätte so wie einst dem Moses durch die Stimme aus der Luft. Darum kann die Stimme Christi gerade so wie jene, die Moses hörte, Gottes Stimme heißen. Und in diesem Sinne können wir auch sagen, die Weisheit Gottes, d. h. eine Weisheit, die über alle menschliche ist, habe in Christo menschliche Natur angenommen und Christus sei der Weg des Heils gewesen.
Ich muß hier aber daran erinnern, daß ich keineswegs von dem rede, was einige Kirchen von Christus lehren, und es auch nicht bestreite. Denn ich gestehe offen, daß ich es nicht begreife. Was ich eben festgestellt habe, entnehme ich der Schrift selber. Denn nirgends habe ich gelesen, daß Gott dem Christus erschienen sei oder mit ihm gesprochen habe, sondern nur, daß Gott durch Christus sich den Aposteln offenbart habe, und dass dieser der Weg des Heils sei, und endlich, daß das alte Gesetz durch einen Engel, aber nicht unmittelbar von Gott selbst überliefert worden sei usw. Daher, wenn Moses mit Gott von Angesicht zu Angesicht sprach, wie ein Mann mit seinem Freunde pflegt (d. h. vermittels beider Körper), so hat Christus mit Gott von Geist zu Geiste verkehrt.
Ich behaupte also, daß außer Christus niemand ohne Hilfe des Vorstellungsvermögens, d. h. ohne Hilfe von Worten oder Bildern die Offenbarungen Gottes empfangen hat, und daß zum Prophezeien nicht ein vollkommenerer Geist, sondern ein lebhafteres Vorstellungsvermögen nötig ist . . . S.24f.
Der Mund Gottes
Christus hat, wie wir annehmen müssen, die Dinge wahr und adäquat begriffen, obgleich auch er Gesetze im Namen Gottes geschrieben zu haben scheint. Denn Christus war nicht so sehr ein Prophet als vielmehr der Mund Gottes. Gott hat nämlich durch den Geist Christi (wie ich im 1. Kap. gezeigt) so wie einst durch die Engel, nämlich durch eine geschaffene Stimme, durch Erscheinungen usw.der Menschheit Offenbarungen zu teil werden lassen.
Darum wäre es ebenso unvernünftig anzunehmen, Gott habe seine Offenbarungen den Anschauungen Christi angepaßt, wie daß er früher seine Offenbarungen den Anschauungen der Engel, d. h. also der geschaffenen Stimme und der Erscheinungen angepaßt habe, um sie den Propheten mitzuteilen, die sinnloseste Annahme, die man sich denken kann, zumal da Christus. nicht bloß zu den Juden, sondern zur Belehrung der ganzen Menschheit gesandt war, und es darum nicht genügt hätte, wenn sein Geist bloß den Anschauungen der Juden angepaßt gewesen wäre, während er doch den Anschauungen und Überzeugungen, die der Menschheit gemeinsam sind, d. h. den allgemeinen und wahren Begriffen angepaßt sein mußte. Eben daraus, daß Gott sich Christus unmittelbar offenbart hat und nicht durch Worte und Bilder wie den Propheten, können wir gerade erkennen, daß Christus die offenbarten Dinge in Wahrheit begriffen oder erkannt hat.
Denn dann wird eine Sache erkannt, wenn sie rein durch den Geist, ohne Worte und Bilder begriffen wird. Christus hat also die offenbarten Dinge wahr und adäquat begriffen; wenn er sie daher wirklich einmal als Gesetze vorschrieb, so tat er es wegen der Unwissenheit und Halsstarrigkeit des Volkes. Er handelte also darin gerade wie Gott, indem er sich dem Geist des Volkes anpaßte und deshalb, wenn er auch mit etwas größerer Klarheit als die andern Propheten sprach, dennoch dunkel und häufiger durch Gleichnisse seine Offenbarungen lehrte, zumal wenn er zu Leuten sprach, denen es noch nicht gegeben war, das Himmelreich zu erkennen (s. Matthäus, 20 Kap. 13, V. 10 ff.). Solchen jedoch, denen es gegeben war, die Geheimnisse des Himmels zu verstehen, hat er ohne Zweifel die Dinge als ewige Wahrheiten gelehrt, aber nicht als Gesetze vorgeschrieben; auf diese Weise befreite er sie von der Knechtschaft des Gesetzes, und nichtsdestoweniger bestätigte und befestigte er dadurch das Gesetz noch mehr und schrieb es tief in ihre Herzen ein. S.86f.
Der Lehrer des Sittengesetzes
Christus ist, wie gesagt, nicht gesandt worden, um den Staat zu erhalten und Gesetze zu geben, sondern bloß um das allgemeine Gesetz zu lehren. Hieraus läßt sich leicht einsehen, daß Christus das mosaische Gesetz durchaus nicht aufgehoben hat, da er überhaupt keine neuen Gesetze im Staate hat einführen wollen.
Vielmehr war er vor allem darauf bedacht, die Sittengesetze zu lehren und sie von den Staatsgesetzen zu unterscheiden, und zwar in erster Linie wegen der Unwissenheit der Pharisäer, welche glaubten, nur der lebe glückselig, der die Staatsrechte oder das mosaische Gesetz aufrecht halte, während es sich doch, wie gesagt, nur auf den Staat bezog und nur dazu diente, einen Zwang auf die Hebräer auszuüben, nicht sie zu belehren. S.95f.”
( Theologisch-politischer Traktat . Übertragen und eingeleitet nebst Anmerkungen und Registern von Carl Gebhardt / Philosophische Bibliothek Band 93, Verlag von Felix Meiner in Hamburg)
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