Gilbert Keith Chesterton: Verteidigung des Unsinns, der Demut, des Schundromans und anderer mißachteter Dinge - Kapitel 17
Verteidigung von Detektivgeschichten
Will man auf den wahren psychologischen Grund für die Verbreitung von Detektivgeschichten kommen, ist es notwendig, sich von einer Menge bloßer Phrasen freizumachen. Es ist beispielsweise nicht wahr, daß die Bevölkerung schlechte Literatur guter vorzieht und zu Detektivgeschichten greift, weil sie schlechte Literatur sind. Der bloße Mangel künstlerischer Feinheit macht ein Buch nicht populär. Das deutsche Reichskursbuch enthält wenig Lichter psychologischer Komödie, und doch wird es nicht fieberhaft an Winterabenden laut vorgelesen. Wenn Detektivgeschichten überschwänglicher gelesen werden als Kursbücher, geschieht es sicher, weil sie künstlerischer sind. Viele gute Bücher sind zum Glück populär gewesen; viele schlechte Bücher sind – ein weit größeres Glück noch – unpopulär gewesen. Selbst eine gute Detektivgeschichte würde wahrscheinlich populärer sein als eine schlechte. Die Schwierigkeit dieser Sache liegt darin, daß viele Leute sich gar nicht klar werden, daß es so etwas wie eine gute Detektivgeschichte gibt; es kommt ihnen vor, als ob man von einem guten Teufel spräche. Eine Geschichte über einen Einbruch zu schreiben, ist in ihren Augen so viel als ihn geistig verüben. Bei weniger sensiblen Menschen ist dies natürlich genug; es muß eingestanden werden, daß viele Detektivgeschichten so voll sensationeller Verbrechen sind wie ein Drama von Shakespeare.
Es besteht jedoch zwischen einer guten Detektivgeschichte und einer schlechten ebensoviel Unterschied oder noch mehr, wie zwischen einem guten Epos und einem schlechten. Die Detektivgeschichte ist nicht nur eine vollkommen legitime Form der Kunst, sondern sie hat gewisse entschiedene und tatsächliche Vorteile als Agent der öffentlichen Wohlfahrt.
Der wesentliche Hauptwert der Detektivgeschichte liegt darin, daß sie die früheste und einzige Form populärer Literatur ist, in der sich etwas Sinn für die Poesie modernen Lebens geltend macht. Menschen lebten unter mächtigen Bergen und ewigen Wäldern Jahrhunderte lang, ehe sie deren Poesie fühlten; es mag vernünftigerweise gefolgert werden, daß manche unserer Nachkommen die roten Rauchfänge in gleicher Purpurpracht sehen mögen wie die Bergspitzen, und daß sie die Laternenpfähle so alt und natürlich finden wie die Bäume. Die Detektivgeschichte dieser Vorstellung von der Großstadt als etwas abenteuerlichem und auffälligem ist die »Ilias«. Niemandem kann es entgangen sein, daß in diesen Geschichten der Held oder Forscher durch London wandert, einsam und frei fast wie ein Märchenprinz aus Elfenland, daß im Verlauf jener unberechenbaren Reife der zufällige Omnibus die Urfarben eines Fabelschiffes annimmt. Die Lichter der Stadt beginnen wie unzählige Koboldsaugen zu glühen, weil sie die Hüter irgendeines, noch so primitiven Geheimnisses sind, das der Dichter weiß und der Leser nicht. Jede Straßenwindung ist wie ein Finger, der darauf hindeutet; die phantastischen Linien der Schornsteine am Horizont scheinen wild und spöttisch den Sinn des Geheimnisses zu signalisieren.
Diese Verwirklichung der Poesie von London ist keine kleine Sache. Eine Stadt ist streng genommen poetischer selbst als das Land; denn während die Natur ein Chaos von unbewußten Kräften ist, ist die Stadt ein Chaos von bewußten. Die Krone einer Blume oder das Muster einer Flechte mögen oder mögen keine bedeutsamen Symbole sein. Aber es gibt keinen Stein in der Straße und keinen Ziegel in der Mauer, der nicht tatsächlich ein bedachtes Symbol wäre – eine Botschaft von irgendeinem Menschen, geradeso als ob es ein Telegramm oder eine Postkarte wäre. Die engste Gasse birgt in jeder Krümmung und Biegung ihrer Anlage die Seele des Menschen, der sie baute und vielleicht schon lang im Grab liegt. Jeder Ziegel hat eine so lebendige Hieroglyphe, als ob er ein Keilschriftziegel aus Babylon wäre; jeder Schiefer auf dem Dach ist ein so erzieherisches Dokument, als ob er ein Schiefer voll Additions- und Subtraktionssummen wäre. Alles, was bestrebt ist, selbst unter bei phantastischen Form der Minutiae des Sherlock Holmes, diese Romantik des Details in der Zivilisation zu verfechten, diesen unergründlich menschlichen Charakter in Kiesel und Schiefer hervorzuheben, ist etwas Gutes. Es ist gut, daß der Durchschnittsmensch in die Gewohnheit verfällt, zehn Leute auf der Straße phantasievoll anzuschaun, selbst wenn es nur mit dem Erfolg geschieht, daß der elfte zufällig ein berüchtigter Dieb ist. Wir träumen vielleicht, daß eine andere und höhere Romantik von London denkbar wäre, daß der Menschen Seelen seltsamere Abenteuer haben könnten als ihre Leiber, und daß es schwieriger und aufregender sein würde, nach ihren Tugenden als ihren Verbrechen zu jagen. Da unsere großen Schriftsteller aber (mit der bewundernswerten Ausnahme von Stevenson) es ablehnen, von jener unheimlichen Stimmung und Stunde zu schreiben, da die Augen der Großstadt wie Katzenaugen im Dunkel zu flammen beginnen, müssen wir es der populären Literatur zugute rechnen, die mitten unter dem Geschwätz von Pedanterie und Übertriebenheit sich weigert, die Gegenwart als prosaisch oder das Alltägliche als Gemeinplatz zu betrachten. Volkstümliche Kunst in allen Jahrhunderten hat auf gleichzeitige Sitte und Tracht Rücksicht genommen; sie kleidete die Gruppen um die Kreuzigung in das Gewand der Florentiner Edlen oder vlämischen Bürger. Im achtzehnten Jahrhundert war es unter hervorragenden Schauspielern Brauch, Macbeth in Puderperücke und Rockkrause zu spielen. Wie weit wir in unserem Zeitalter davon entfernt sind, an die poetische Überzeugungskraft unseres eigenen Lebens und Treibens zu glauben, läßt sich leicht vorstellen, wenn man sich etwa ausmalt, wie Alfred der Große in Kniehosen und Lodenstrümpfen die Kuchen bäckt, oder eine Hamletaufführung, in der der Prinz im Frack erschiene, mit einem Trauerflor um seinen Hut. Aber dieser Instinkt des Zeitalters, zurück zu blicken wie Loths Frau, konnte nicht immer vorhalten. Eine ungefeilte, volkstümliche Literatur aus den romantischen Möglichkeilen der modernen Stadt mußte aufkommen. Sie ist mit den populären Detektivgeschichten erstanden, so urwüchsig und erfrischend wie die Balladen von Robin Hood.
Auch noch ein anderes gutes Werk wird durch die Detektivgeschichten getan. Während es die ständige Neigung des alten Adams ist, gegen etwas so Allgemeines und Automatisches wie Zivilisation zu rebellieren, Lossage und Aufruhr zu predigen, bringt das romantische Polizeiwesen in gewissem Sinne die Tatsache zum Bewußtsein, daß die Zivilisation selbst die sensationellste Lossagung und der romantischeste Aufruhr ist. Wenn wir an die nicht schlafenden Schildwachen denken, die die Vorposten der Gesellschaft schützen, muß es uns mahnen, daß wir im gerüsteten Lager leben und Krieg führen mit einer chaotischen Welt, und daß die Verbrecher, die Kinder des Chaos, nichts anderes sind als die Verräter in unseren Toren. Wenn der Detektiv in einem Polizeiroman allein und etwas wahnwitzig furchtlos dasteht unter den Messern und Fäusten einer Diebsküche, dient es sicherlich dazu, uns daran zu erinnern, daß der Agent der sozialen Justiz die eigentlich originelle und poetische Figur ist, während die Einbrecher und Wegelagerer bloß friedliche, alte, kosmische Konservative sind, glücklich in der uralten Respektabilität der Affen und Wölfe. Die Romantik der Polizeimacht ist demnach die ganze Romantik des Menschen. Sie ruht in der Tatsache, daß Moral die dunkelste und gewagteste aller Verschwörungen ist. Sie bedeutet uns, daß die ganze geräuschlose und unmerkliche Polizeiverwaltung, durch die wir regiert und geschützt werden, bloß ein erfolgreiches fahrendes Rittertum ist.
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